Sehens- und hörenswerter »Hoffmann« in Nizza






Besuchte Vorstellung am 21.1.09



Internetseite der Oper von Nizza


Regie: Paul-Emile Fourny

Dirigat: Emmanuel Joël-Hornak

Bühnenbild und Kostüme: Louis Désiré



Hoffmann: Luca Lombardo

Stella, Olympia, Antonia, Giulietta: Annick Massis

Muse: Juliette Mars

Widersacher: Giorgio Surian

Stimme der Mutter: Marie-Thérèse Keller


Fazit Nizza:


Ein fulminanter Auftakt für das Jahr 2009. Die Diva Annick Massis sang trotz Grippe und Bronchitis souverän alle Sopranrollen. Eine einfallsreiche Regie mit zahlreichen eigenständigen und werkskonformen Einfällen. Ein einfaches, aber wirkungsvolles und kreatives Bühnenbild. Musikalisch und stimmlich alles tadellos. Gelungene Co-Produktion mit dem Theater Saint Etienne.


Im Royal Opera House am Covent Garden war eine französische Opernkritikerin neben mir gesessen, die mir wenig Hoffnung auf einen guten Hoffmann in Nizza gemacht hatte, doch ich flog trotzdem hin, und es kam alles ganz anders. In Nizza, wo es auch eine Rue Jaques Offenbach gibt, sah ich meinen ersten Hoffmann auf dem Territorium der République Française, und der war ausgezeichnet und einfallsreich inszeniert.

Die Nizzarder Oper liegt nur ein paar Meter vom Mittelmeer entfernt, nur die sechsspurige Ferrari- und Rolls-Royce-Rennbahn „Promenade des Anglais" liegt noch dazwischen.

Das Opernhaus mit 1200 Plätzen stammt aus der Belle Époque und war einmal abgebrannt, wie die meisten Opernhäuser, die etwas auf sich halten.

Vor dem Haus suchten mehrere Leute eine Karte. Schon einmal ein gutes Zeichen für eine zweite Vorstellung.

Freundlicher Empfang für mich, und erste Überraschung: mein Platz lag in der Grande Loge im ersten Rang, die ein großes goldenes N zierte. N für Napoleon III., den Neffen des Kriegsherrn und Massenmörders Napoleon Bonaparte. Bester Platz im Hause! So war ich noch nie gesessen.

Das Innere gefiel mir spontan. Der leicht verbleichende Charme der Belle Époque verleiht dem Theater seinen eigenen anheimelnden Charme.


Die Ränge außer der Galerie sind in Logen mit fünf bis sechs Stühlen unterteilt, wobei jede ihren eigenen Spiegel hat. Rot und Gold sind die vorherrschenden Farben. Das Parkett besitzt einen Mittelgang. Von der Anlage her ähnelt es dem Teatro Sao Carlos in Lissabon.

Das Emblem des kapriziösen Kaisers und Usurpators Napoleon III., von Jacques Offenbach im Orpheus in der Unterwelt unsterblich veräppelt, schmückt das Theater, außerdem ein riesiger Lüster.



Annick Massis



Ein Herr mit Mikrofon trat vor den Vorhang: Die Hauptdarstellerin Annick Massis, die alle vier Frauenrollen singen sollte, sei leider an Grippe erkrankt, singe aber trotzdem, so gut sie könne. Das Publikum spendete spontan einen aufmunternden Applaus.

Das Orchester (3 Kontrabässe und 3 Celli) begann gut und gefühlvoll. Dirigent war Emmanuel Joel-Hornak.

Das Nizzarder Bühnenbild war einfach, aber eines der wirkungsvollsten, das ich je gesehen habe. Es bestand im Wesentlichen aus zwei konzentrischen Kreisen oder Zylindern. Der äußere war ein Halbkreis aus rotem, herabhängendem Tuch, der die ganze Bühne umfasste; man könnte auch sagen: ein nach vorne offener Zylinder aus rotem Tuch. Der innere Kreis oder Zylinder hing genau über der kleinen Drehbühne, war aus schwarzem Tuch und wurde je nach Bedarf geöffnet oder geschlossen. Dazu stellte man je nach Akt einige wenige, aber markante und charakteristische Utensilien auf die Bühne. Sehr intelligent und wirkungsvoll gestaltet mit einfachen Mitteln. Kompliment an Louis Désiré, maître des décors et costumes. Edle Einfalt, stille Größe in NIzza. Wenn ich daran denke, wie manche Theater die Bühne zumüllen!

Obwohl sich nur wenige Gegenstände auf der Bühne befanden, wirkte sie nie leer, denn die Regie sorgte für kluge Aufstellung der Akteure an den Brennpunkten des Geschehens.

Die Muse (Juliette Mars) trat auf, legte einen Umhang ab und wurde zum androgynen Niklaus. Gut begann sie zu singen. Aha, auch in einem französischen Theater werden französische Übertitel eingeblendet. Das sollte man öfter tun.

Ein mephistophelischer Lindorf in rotem Umhang trat auf und ersteigerte Stellas Brief an Hoffmann, allerdings etwas zu schnell und widerstandslos.

An die 30 Herren stellten Hoffmanns Kumpane in Lutters Kneipe dar, der in schwarzem Frack auftrat. Übrigens, der Regisseur (Paul-Emile Fourny) versetzte uns in eine vergangene Zeit mit vereinzelten modernen Elementen, ohne daraus eine museale Aufführung wie am Covent Garden zu machen.

Der Chor wurde gut aufgestellt und dirigiert, und es gab sogar eine kleine Balletteinlage, schließlich ist man ja in Frankreich.

Hoffmann (Luca Lombardo) trat in schwarzem Anzug mit rotem Umhang auf, den er zum Klein-Zack ablegte. Der Nizzarder Hoffmann war ein eher lyrischer, fast melancholischer Typ, der gut zum Klein-Zack agierte. Als er von Stella sang, drückte er eine Partitur des Don Giovanni an seine Brust. Nette kleine Details einer Inszenierung, die mir immer sympathischer wurde. Nach dem Klein-Zack der zweite spontane Applaus an diesem Abend. Ich merkte schon, das Publikum an der Côte d´Azur hat mediterranes Temperament.

Der Konflikt Hoffmann-Lindorf wurde gut dargestellt. Es wurde deutlich: gegen diesen Lindorf hat Hoffmann keine Chance.

Ein hübsch gebundenes Buch befand sich immer auf der Bühne: Hoffmans Erzählungen.

Dieses Buch öffnete Hoffmann dann, als er begann, seine drei Geschichten zu erzählen. Der Regisseur schien uns mit solchen intelligenten kleinen Einfällen durch die Oper führen zu wollen.

Der Olympia-Akt begann mit einem fantasievollen Bühnenbild. Mitten auf der Bühne stand als Blickfang ein überlebensgroßer Babykopf, kahl ohne Haare, ca. drei Meter hoch.

Das Publikum bei Spalanzani war in Rokoko-Kostüme gekleidet. Spalanzani (Osvaldo Peroni) trat in grünem Rock und mit hoher weißer Perücke auf. Auch Coppelius drängte sich gleich dem Hoffmann mit seinen Produkten auf. Wieder ein schönes Regiedetail: Als Coppelius von den Augen sang, wurde die Augenpartie des kahlen Schädels hell beleuchtet. Die Muse agierte energisch, aber vergeblich, um Hoffmann zu warnen.

Coppelius knöpfte dem Hoffmann noch drei Dukaten für die Zauberbrille ab, der ganz entzückt von seinem neuen Besitz war.

Als sich Coppelius und Spalanzani gegenseitig ihrer Freundschaft versicherten, schwang Coppelius ein Messer hinter Spalanzanis Rücken.

Die aufwändig gekleidete Festgesellschaft bestand aus ca. 60 Personen, deren Gesang durch sein Volumen beeindruckte. Die Damen trugen Grün, die Herren Schwarz. Alle trugen sie Brillen und Perücken.

Nun drehte sich der riesige Kopf. Er war hinten offen, und darin saß Olympia, genauso kahl wie der Kopf. Die Nizzarder Olympia hatte gar nichts Liebliches. Kühl und abweisend wirkte sie in ihrem glänzenden, hautengen schwarzen Trikot.

Als Hoffmann begann, von Olympia zu schwärmen, maß ihm Niklaus skeptisch die Temperatur seiner Stirn: bist du noch bei Trost oder schon im Fieberwahn?

Gespannte Aufmerksamkeit im Theater, als sich Olympias Arie ankündigte. Wie würde die gesundheitlich angeschlagene Annick Massis singen?

Eine wunderschöne Stimme mit einem lockeren und doch disziplinierten und präzisen Koloratursopran füllte das Theater. Klar und warm auch in den höchsten Tönen. Nur zweimal setzte ihre Stimme für Sekundenbruchteile aus. Wie muss Annick Massis erst singen, wenn sie gesund ist? Eine der besten Olympien, die ich je hörte.

Als die Muse den begeisterten Hoffmann vor dieser energischen Olympia schützen wollte, schubste der Automat sie einfach grob weg.

Während ihrer Arie legte Olympia ihren Rock ab und vollführte in ihren hohen schwarzen Stiefeln einen Lapdance auf Hoffmanns Schoß. Der Applaus des Hauses hatte olympische Dimensionen. Der längste, den ich je nach einer Olympia-Arie hörte.

Auf der Bühne fand im Hintergrund endlich mal ein richtiges Souper unter einem Kronleuchter statt.

Olympia legte noch nach, indem sie den verliebten Hoffmann knallhart anpackte, was den aber nicht abschreckte.

Olympia erlitt einen grausamen Tod, denn Coppelius hatte sie zu einem Skelett reduziert, das Hoffmann immer noch liebkoste, während er kräftig verlacht wurde. Dazu prügelten sich Spalanzani und Coppelius.


Nach der Pause ging es weiter mit Antonia. Sie lag krank auf einer großen Schallplatte von der Größe der zentralen Drehbühne, die mit Notenblättern übersät war.

Annick sang nun mit wunderschöner weicher Stimme voller Lyrik. Was für eine vielseitige Sängerin!

Als die Muse die Geigenarie sang, wurde die riesige Schallplatte durch Lichteffekte in Drehung versetzt.

Gelungen auch die Gestik und Mimik zu ihrem schönen Gesang. Immer wieder spendete das Publikum Szenenapplaus. Aber es bekam ja auch einiges geboten.

Hoffmann und Antonia zeigten ein sensibles Zusammenspiel, während dessen es Notenblättern regnete. Als sie sich immer wieder inniglich umarmten, dachte ich jedesmal, hoffentlich steckt sie den Hoffmann nicht mit ihrer Grippe an.

Interessant auch, wie der Nizzarder Regisseur die Ferndiagnose Mirakels an Antonia inszenierte: Antonia stand hinter dem roten Vorhang. Nur ihre Konturen und ihr Schatten bildeten sich ab. An diesen Konturen stellte Mirakel dann seine Pseudodiagnose. So ähnlich schilderte Salman Rushdie in seinen Mitternachtskindern eine medizinische Diagnose in seiner muslimischen Heimat.

Mit Karriereversprechungen setzte Mirakel die Antonia in einen Trancezustand. Die bislang kränkelnde Antonia blühte richtig auf und produzierte sich wie eine Diva auf der Bühne.

Als die Stimme der Mutter (Marie-Thérèse Keller) beschworen wurde, geschah das in einer einfallsreichen Szene. Die riesige Schellackplatte in der Bühnenmitte begann sich zu drehen, und Mirakel setzte die große Tonabnehmernadel auf die Platte. Im Bühnenhintergrund erschien ein riesiger Schalltrichter, aus dessen Mitte die Mutter sang. Das hatte ich noch nicht gesehen. Was für eine gelungene Bildersprache war dem Regisseur eingefallen! (Bei den Franzosen heißt der "metteur en scène") Doch der Reigen der eidetischen Genüsse war noch nicht zu Ende.

Stumme Frauengestalten in Opernkostümen stellten sich auf die sich drehende Schallplatte: eine Carmen, eine Waltraute und eine Kameliendame - Rollen, welche die Mutter in ihrem früheren Opernleben als Mezzo gesungen haben mochte.

Ich war nur mehr begeistert von derr Bildsprache dieser Inszenierung.

Und Mirakel genoss nur mehr zynisch grinsend sein tödliches Werk.


Nach der zweiten Pause - Annick Massis musste sich schließlich erholen - beherrschten zwei riesige Gondeln das Bühnenbild. Nein, nicht die üblichen Deko-Gondeln, welche das Publikum nach Venedig versetzen sollten, sondern zwei Gondelfragmente, das eine halb gekentert und auf dem Wasser schwankend. Dazu hob und senkte man nicht die Bühne, sondern den projizierten Bühnenhintergrund im Takt der Wellen. So wurde Hoffmanns perkäre Lage angedeutet.

Zahlreiche Transvestiten in Krinolinen bevölkerten die Bühne, auf den Köpfen schwarze Dreispitze. Auch Hoffmann war zu einem androgynen Wesen mutiert. Giulietta dagegen trug einen schwarzen Frack, wie später auch Hoffmann, der allerdings kein Hemd darunter anhatte. Dapertutto sang die Spiegelarie mit hochdramatischem Vibrato.

Ganz ausgezeichnet auch, wie das Sextett gegeben wurde. In Nizza gab es alles: Geigenarie, Spiegelarie und Sextett.

Interessant auch, wie der Regisseur Hoffmanns Spiegelbildverlust dargestellt hatte: Auf einen großen Spiegel hatte man eine Folie mit Hoffmanns Aussehen geklebt, die dann von Giulietta ganz einfach abgezogen wurde. Einfach und genial. Daraufhin verschwand sie grußlos mit Dapertutto.

Das Duell spielte gar keine Rolle mehr. Es wurde nicht gezeigt, nur Niklaus kam mit einem blutigen Hemd aus der Kulisse. Dieses Ende des Giulietta-Aktes wäre für einen Nicht-Hoffmann-Kenner etwas unverständlich gewesen.


Zum letzten Akt erschien der Chor im Frack und fixierte Hoffmann fast drohend. Stella erschien.

Als Hoffmann den Rest des Klein-Zack sang, ging er voll in dieser Rolle auf - er wurde zum Klein-Zack, dem hässlichen Zwerg und brach leblos zusammen.

Das Orchester produzierte den wunderschönen Sound, der den Abgesang der Muse einleitetete. Sie ging mit einem Strauß roter Blumen auf den leblosen Hoffmann und erweckte ihn mit ihrem Gesang und den Blumen wieder zum Leben. Doch dann sank er wieder leblos nieder, und die Muse legte ihm die Rosen auf die Dichterbrust. Was für ein poetisches Ende. Lindorf triumphierte, doch das fahle Licht verhieß auch für ihn nichts Gutes.


Begeisterter Applaus des Publikums, besonders natürlich für Annick Massis, aber auch für Marco Lombardo. Während des langanhaltenden Applauses ging das Publikum immer wieder in rhythmisches Klatschen über.


Es war Mitternacht geworden, und keine Sekunde war dieser an eindringlichen Bildern überreiche Hoffmann langweilig geworden.

Am Bühneneingang holte ich mir noch ein Autogramm von Annick Massis, die wirklich vergrippt aussah, wovon man aber auf der Bühne nichts bemerkt hatte. Sie sagte mir, dass am Morgen dieses Tages zur Grippe noch eine Bronchitis dazu gekommen sei. Und trotzdem stand sie alles durch. Obwohl sie Marco Lombardo gewarnt hatte, sie zu umarmen, hatte er das er das häufig getan. Ich kann ihn gut verstehen.


Wir unterhielten und noch etwas über die Oper, und Annick Massis sagte zum Schluss: C´ est un opéra très philosophique. Wie recht sie hat.


Auf dem Video kann man einen kleinen Eindruck von dieser Inszenierung bekommen, die immer mal wieder in Frankreich mit wechselnden Sängern gespielt wird:

http://culturebox.france3.fr/all/7189/les-contes-d_hoffmann-en-terre-nicoise/#/all/7189/les-contes-d_hoffmann-en-terre-nicoise




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