Ästhetisch-chiquer »Hoffmann« in Lodz


Besuchte Vorstellung 14. Oktober 2009

Wiederaufnahme einer Inszenierung von 2007


Regie: Giorgio Madia

Dirigat: Tadeusz Koslowski

Bühnenbild:

Reihenfolge: Olympia- Giulietta – Antonia

Version: Guiraud - Choudens



Hoffmann: Dario Walendowski

Muse: Agnieszka Makowka

Olympia: Joanna Wos

Giulietta: Monika Cichoka

Antonia: Dorota Wójcik

Lindorf und Mirakel: Piotr Nowacki

Coppelius: Robert Ulatowski

Dapertutto: Zenon Kowalski

Mutter: Malgorzata Borowik





Fazit Lodz:

Ein optisch schöner Hoffmann mit einem eleganten Bühnenbild in norditalienischem Design. Einfache, klare Requisiten, welche die jeweilige Situation verdeutlichten. Ein ausgezeichnetes Orchester unter einem Dirigenten, der das Publikum doch einfach klatschen lassen sollte, wenn die sich danach fühlen. Das freut außerdem die Sänger. Die schnellen Auftakte seien ihm verziehen, denn sonst war alles in Ordnung.

Der Gesang war durchweg auf hohem Niveau. Besonders die Antonia und die Giulietta möchte ich hervorheben. Dario Walendowski zeigte eine reife Leistung. Die Zahl der aufgesetzten Gags war erfreulicherweise begrenzt. Es gab kaum Bizarrerien. Die Inszenierung glänzte mit schönen Bildern und Szenen, eleganten Kostümen und effektvoll einstudierten Bewegungen. Die Handlung der Oper wurde nachvollziehbar erzählt, ohne dass eine psychologische Vertiefung stattfand.



Dass Lena Valaitis Ernst THEOdor Wilhelm Hoffmann in ihrem berühmten Schlager meinte, schließe ich mal aus. Aber dass E.T.A. Hoffmann als preußischer Beamter mal zu Besuch in Lodz war, ist gut möglich, denn zu seinen Lebzeiten war die polnische Nation unter den Großmächten Preußen, Osterreich und Russland aufgeteilt. Was mich nur wundert, ist die bei uns übliche Aussprache des Stadtnamens, durch das Schlagersternchen popularisiert. Man sagt nämlich nicht [Iotsch], sondern [wotsch] oder gar [wutch].

Lodz ist eine Industriestadt mit 750.000 Einwohnern und war im 19. Jahrhundert das polnische Manchester mit einer riesigen Textilindustrie, die zum Teil von immens reich gewordenen deutschen Unternehmern aufgebaut wurde. Es wuchs rasant, und einen alten

Stadtkern gibt es nicht. Anders als Warschau hat die postkommunistische Modernisierung Lodz nur zögerlich ergriffen, und in die Infrastruktur der Stadt muss noch viel investiert werden. Arthur Rubinstein ist übrigens ein Sohn der Stadt.

Der Hoffmann von Lodz hatte schon 2007 Premiere, und nun hat man ihn für ein einziges Mal wieder aufgeführt. Ich vermute, zu Ehren des Jubilars Dario Walendowski.

Das Teatr Wielki (= großes Theater, entsprechend dem russischen Bofschoi Theater) ist ein moderner Bau aus den 60er Jahren mit einem interessant gestalteten Vorplatz mit Wasserspielen und einer künstlichen Landschaft, die eine Besonderheit aufweist: An vier Masten hängen wetterfeste Lautsprecher, über die laufend Opernmusik zu hören ist. Eine nachahmenswerte PR-Idee der Oper von Lodz.


Freundlich und in perfektem Deutsch wurde ich vom Pressesprecher der Oper, Herrn Trochanowski, begrüßt. Er ist nämlich studierter Germanist und auch als deutsch-polnischer Übersetzer tätig.

Das Theater hat 1074 Plätze und besteht aus einem ansteigenden Parkett und einem großen Balkon. Ich saß dort in der ersten Reihe und hatte freien Blick auf Bühne und Orchester.

Auch das polnische Publikum scheint zu wissen, dass Theatervorstellungen erst ca. 10 Minuten nach dem festgesetzten Termin beginnen. Um 18:08 begann das Orchester, sich einzustimmen.

Das Parkett war dann fast voll besetzt, der große Balkon zu ca. einem Drittel. Wie schon beim Hoffmann in Warschau im Jahr zuvor waren sehr viele junge Leute im Publikum. Beneidenswertes Polen.

Im Orchester zählte ich vier Kontrabässe und sieben Celli.

Kein Applaus brandete auf, als der Dirigent den Orchestergraben betrat. Zur Strafe hetzte er die Auftaktakkorde durch. Dieses Tempo greift immer mehr um sich!

Die Chor besang die Geister des Weines und des Bieres auf dunkler Bühne. Lindorf kam von rechts auf die Buhne, wie das die negativen Charaktere nach den ungeschriebenen Regeln zu tun haben. Er sang gleich mit kräftiger, sonorer Stimme. Auch der Chor sang gut und inspiriert, begleitet von einem präzise spielenden Orchester.

Gesungen wurde auf Französisch mit polnischen Übertiteln, von denen ich mangels polnischer Sprachkenntnisse wenig verstand, außer „kocham cie" = ich liebe dich, als Lindorf aus Stellas Brief an Hoffmann vorlas, den ihm ein als Hotelpage livrierter Bote gebracht hatte.

Ein modernes, großzügiges Bühnenbild beherrschte die breite Bühne. Viele bunte Flaschen schmückten die lange Bar, hinter welcher der Mond aufgegangen war. Erster Applaus für Lindorfs Vorstellung seiner selbst und sicher auch für den dynamisch singenden Chor.

Hoffmann und Niklaus traten im Frack auf, und Niklaus hatte noch dazu einen Zylinder auf dem Kopf.

Wahrend Hoffmann den Klein-Zach sang, setzte über der Bar ein Balletttänzer die Ballade mimisch um.

Ein guter Einfall. Doch beim Übergang zu Stella hörte er auf. Da hätte man doch eine Tänzerin einspringen lassen können. Erst als Hoffmann zum Klein-Zach zurückkehrte, erschien der Tänzer wieder.

Hoffmann sang mit angenehmer, Iyrischer Stimme.

Lobenswert auch die gute Chorregie. Naja, wenn ein italienischer Ballettmeister Regie führt, darf man im optischen Bereich schon einiges erwarten.

Applaus für den Prolog.


Als der Vorhang zum Olympia-Akt aufging, saß vorne links an der Bühne ein Herr an einem Notenpult, der aussah wie der Hoffmann vom Prolog.

Spalanzani war diesmal nicht Albert Einstein, wie so oft und so unpassend, sondern Karl Lagerfeld. Durchaus passend. Ganz eindeutig, und hektisch auf der Bühne umherwetzend, Aufmerksamkeit heischend und sich frische Luft zufächelnd - Spalanzani als Arbiter elegantiarum und superschicker Zeremonienmeister. Die Idee mit Karl Lagerfeld wurde in Rouen/Normandie wieder aufgegriffen.

Dann merkte ich, dass der Herr links vorne an der Bühne doch der Hoffmann sein musste, denn er hub an zu singen, und ein jüngerer Mann mimte dazu stumm auf der Bühne. Den Grund für diese Rollenteilung erfuhr ich erst nach der Vorstellung: Bei der Premiere war der Sänger des Hoffmann stimmlich indisponiert gewesen, was ja vorkommt. Und so mimte er auf der Bühne, während ein eingesprungener Sänger vom Bühnenrand sang. Das gefiel dem Regieteam, und so behielt man dieses Arrangement für die drei Akte bei, während Hoffmann im Pro- und Epilog sang und agierte. Man kann es ja so sehen, dass sich Hoffmann solchermaßen selbst in seine Geschichten hineinfantasierte und eine andere Gestalt sein Alter Ego darstellte.

Cochenille war ein modischer Jüngling. Olympia in einem Goldlamé-Kleid wurde auf einem leicht nach hinten geneigten Gestell hereingebracht.

Die Muse agierte gut zum Couplet von der mechanischen Spieluhr mit dem Vögelchen, womit natürlich auf den Automaten Olympia angespielt wurde.

Coppelius trat als unwiderstehlicher Powerseller in schwarzem Umhang auf und bekam Applaus für seinen umwerfenden Auftritt.

Mimisch wurde gut dargestellt, wie sich Spalanzani und Coppelius ihrer Freundschaft versicherten: Sie tanzten zusammen einen Quickstep. Das war schon alles sehr witzig.

Spalanzanis Festgäste waren elegant in schwarze Abendgarderoben gekleidet. Der große Chor umfasste mindestens 50 Sänger. Und Spalanzani-Lagerfeld beherrschte affektiert um Aufmerksamkeit buhlend und heftig fächelnd die Bühne. Der Mime des Hoffmann hatte inzwischen eine dunkle Brille aufgesetzt bekommen.

Spitze Schreie des Entzückens von den Festgästen, als Olympia vorgestellt wurde. Das war das Schickeria-Ereignis des Jahres!

Wie ein Mannequin stolzierte sie unter Blitzlichtgewitter auf dem Laufsteg. Eine stehende Harfe wurde hereingebracht. Die Arie der Olympia trug sie ziemlich schnell, aber gekonnt vor. Als sie schwächelte, brachte sie Spalanzani mit einer Fernbedienung wieder in Gang. Wie zu erwarten, funktionierte die Fernbedienung nicht gleich. Hysterische Aufregung beim Publikum Spalanzanis, und danach gut gespielte Beruhigung, als Olympia dann doch weitersang.

Ein schönes Bild bot sich dem Zuschauer: Olympia im Goldlamékleid auf rotem Podest. Der Chor stellte die Dekadenz der Schickeria gut dar.

Links und rechts auf der Bühne standen zwei überdimensionale Kühlschränke, in denen weitere Olympien auf ihre Präsentation warteten - und allerlei tiefgefrorene Körperteile, die zusammengefügt werden sollten. Olympia wurde blitzschnell gegen eine Puppe ausgetauscht, und Coppelius tat, was er zu tun hatte.

Applaus für diesen schön anzusehenden und anzuhörenden Akt, und Pause, während der die Harfenistin aus dem Orchestergraben anheimelnde Melodien hören ließ.


Weiter ging es mit dem Giulietta-Akt. Diese Reihenfolge hatte auch Harry Kupfer in Warschau gewählt.

Mit einem optisch geschickt gestalteten Wellenspiel wurde der Zuschauer nach Venedig versetzt. Oder sollten die Wellen die unsichere und wechselnde Situation versinnbildlichen, in der sich Hoffmann bald finden würde?

Ein riesiger runder Spiegel hing über der Bühne.

Die Muse kam von links in einer riesigen Gondel hereingefahren. Neben ihr eine Figur, die man als Chopin identifizieren konnte.

Giulietta trat als blonde Madonna mit atemberaubendem Dekolletè auf. Sie schmuste gleich mal abwechselnd mit Männern wie Frauen, und die auch untereinander. Die Frauen im Chor trugen silberne Gesichtsmasken.

Bei dem großen Spiegel über der Bühne durfte natürlich die zugehörige Arie nicht fehlen, die von Dapertutto mit weichem TImbre vorgetragen wurde.

Dann ließ sich Giulietta auf dem riesigen runden Lotterbett in Blau inmitten der vielen riesigen blauen Lotterkissen nieder und machte sich ans Werk, dem Hoffmann sein Spiegelbild zu rauben. Das Meer begann zu brodeln, als ihr dies gelang. Die Giulietta von Lodz sang übrigens ganz ausgezeichnet. Mit ihrer klaren und vollen Stimme überstrahtte sie beim Sextett alle anderen auf der Bühne.

Eine zweite Gondel, ebenso elegant stilisiert wie die erste, zog im Bühnenhintergrund ein, darin vier miteinander schmusende Frauen. Das ging ja echt was ab in Venedig! Es gab ein kurzes Pistolenduell, und wie schon zuvor ertönte kein Piccolo. Und dann entschwand Giulietta mit Pittichinaccio in der Gondel.


Pause Nummer zwei.


Auch an der Bar gab es keinen Piccolo. Nur Alkoholfreies wurde ausgeschenkt. Richtig so. Man geht ja schließlich nicht in die Oper, um sich zu besaufen.

Weiter ging es mit dem Antonia-Akt. Wieder kein Applaus, als der Dirigent hereinkam. (Zu Beginn des Giulietta-Aktes hatte ich frech den Applaus eröffnet, denn das Orchester spielte wirklich gut.)

Wiederum ein sehr schönes, klares, einfaches und elegantes Bühnenbild. Man blickte sozusagen von oben in ein grünes Zimmer, das zum großen Teil von einem riesigen Flügel ausgefüllt wurde, auf den man von oben blickte. In Wirklichkeit stand er senkrecht. Eine gelungenes optisches Vexierbild. Antonia schien auf dem Flügel zu Iiegen, stand aber in Wirklichkeit ganz normal senkrecht.

Ganz hervorragend begann sie zu singen. Ein hochdramatischer Sopran, der viel Wärme ausstrahlte. Ihre große Stärke zeigte sie in klaren und silberhellen Pianissimi und Forti, wie sie nur wenige Sängerinnen beherrschen. Sie war in ein bühnenreifes weißes schulterfreies Kleid gewandet.

Hoffmann war wiederum zweigeteilt. Vorne links sang Dario Walendowski, auf der Bühne agierte der stumme Traumtänzer.

Doktor Mirakel trat in weißem Arztkittel und mit Latex-Handschuhen auf. Ein beeindruckendes Terzett Hoffmann - Krespel - Mirakel folgte.

Mirakel agierte diabolisch und hatte die Antonia voll im Griff. Da Niklaus in diesem Akt abwesend war, hörte ich auch keine Geigenarie.

Ein weiteres beeindruckendes Bild gab es, als sich der Deckel des Flügels öffnete, unter dem die Mutter in einem Sarg lag.

Dann folgte der musikalische Höhepunkt des Abends mit dem Terzett Antonia - Mutter - Mirakel. Dazu eine hervorragende Orchesterbegleitung. Dafür gab es donnernden Applaus des Publikums.

Die hervorragende Antonia erstarb in klarem und silberhellem Pianissimo, wie ich es ähnlich nur einmal zuvor an der Wiener Staatsoper gehört hatte. So ein glasklares Pianissimo ohne mit der Stimme zu schwanken beherrschen nur wenige Sängerinnen. Starker Applaus, schon bevor die letzten Töne „Antonia" verklungen waren. Das Publikum rächte sich nun wohl am Dirigenten, der mehrfach in den Applaus hatte hineinspielen lassen, indem es nun in die noch nicht verklungene Musik hineinklatschte.


Das Orchester zeigte wieder seine Stärken. Der Hörnerchor, der den Schlussakt einleitete, kam präzise und ohne Kiekser. Das gelingt auch nicht immer.

Hoffmann war nun wieder in einer Person auf der Bühne.

Stella kam mit einem Rosenstrauß und ging mit Lindorf nach links. Das bedeutet in der Bühnensymbolik nichts Gutes. Die Muse erschien nun wieder im selben Outfit, nun aber als Frau und küsste den Hoffmann.

Da man die Choudens-Version spielte, war das Ende ziemlich kurz.

Brausender Applaus des Publikums, noch bevor der letzte Ton verklungen war. Sogleich ging das Publikum in rhythmisches Klatschen über, noch bevor sich der Vorhang gehoben hatte.

Die Hauptdarsteller erhielten reiche Blumengeschenke, und Hoffmann wurde heftigst bejubelt. Der Applaus schien kein Ende zu nehmen, als das 30jährige Bühnenjubiläum Dario Walendowskis gefeiert wurde.


Ais ich am Bühneneingang wartete, kam außer dem Hoffmann-Double niemand von den Hauptdarstellern heraus. Der erklärte mir dann den Hintergrund des doppelten Hoffmann. Endlich kam Dario Walendowski, doch er schien im Stress. Er gab mir sein Autogramm und nahm mich freundlicherweise mit in einen Raum des Theaters, wo man sein Bühnenjubiläum weiterfeierte. An diesem Abend hatte er außerdem seinen 75. Hoffmann gesungen, darunter an mehreren Theatern in Deutschland.



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