Innovativer »Hoffmann« in Pforzheim

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www.theater-pforzheim.de



Besuchte Vorstellung 10. Mai 2024 (Premiere)















Regie


Markus Hertel

Dramaturgie


Klemens Renoldner

Dirigent


Robin Davis

Chorleitung


Johannes Antoni

Ausstattung


Monika Gora

Version


Kaye-Keck

Sprache


Deutsch




Hoffmann


Dirk Konnerth

Muse


Cecilia Pastawski

Stella


Elisandra Melián

Olympia


Lou Denès

Antonia


Stamatia Gerothanasi

Giulietta


Dorothee Böhnisch

Widersacher


Lukas-Schmid-Wedekind










Fazit Pforzheim: Ein gelungener »Hoffmann« mit einem bemerkenswerten Anfang und einem völlig neuartigem Schluss, in dem die Rolle der Stella bedeutend erweitert wurde. Die Geschichte von Hoffmanns Erlebnissen wurde nachvollziehbar erzählt. Musikalisch und gesanglich alles auf hohem mitteleuropäischem Niveau, das Orchetser tadellos dirigiert. Das Bühnenbild war modern und sachlich stilisiert, die Kostüme mal modern, dann wieder typisch für die Zeit E.T.A. Hoffmanns, und einige fantasievoll. Hoffmann wurde immer als Dichter gekennzeichnet, der sich Notizen macht. Erfreulich die beinahe völlige Abwesenheit von werksfremden und die Zuschauer ablenkenden Bzarrerien und Nebenhandlungen. Die Sänger standen gelegentlich etwas steif herum, besonders im Antonia-Akt, aber das lag an der völlig normalen Premierennervosität. Das Publikum schien diese Inszenierung von Anfang an zu mögen, ging gut mit und spendete häufigen Szenenapplaus. Ich auch. Der Schlussplaus dauerte acht Minuten und wurde durch den Vorhang beendet. Eine gelungene Inszenierung mit schönen Stimmen, deren Besuch man vorbehaltlos empfehlen kann. Was diese Inszenierung bemerkenswert in der neueren Aufführungsgeschichte dieser Oper machte, war die völlig neu interpretierte Rolle der Stella im fünften Akt. Ein Muss für Freunde und Kenner dieser Oper.



Fährt man auf der Autobahn A8 oder der Bahnstrecke Salzburg – Heidelberg von Südosten nach Nordwesten, so findet man entlang der Strecke wie auf einer Perlenschnur aufgereiht folgende Theater mit Opernbetrieb: Salzburg – München – Augsburg – Ulm – Stuttgart – Pforzheim – Karlsruhe - Mannheim - Heidelberg. Und alle haben sie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten »Hoffmänner« inszeniert, und alle hatten ihren Reiz. In Pforzheim war es nun schon der zweite, den ich erleben durfte. Nur Rosenheim auf deiser Strecke mit seinen immerhin 83.000 Einwohnern betreibt kein eigenes Theater. Das halb so große Nürdhausen in Thüringen, die viertel so großen Kleinstädte Meiningen und Neustrelitz dagegen leisten sich vitale Dreispartentheater.


Das Pforzheimer Theater ist ein Neubau und liegt in der Nähe des Flusses Enz, der durch die Stadt fließt. Der Neubau wurde nötig, da das alte Theater kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges von britischen Bombern zerstört wurde, wobei ein Viertel der Bewohner der Stadt getötet wurden. Assoziationen an die Ukraine und an den Gazastreifen werden wach.



Das Theater liegt iln einem futuristisch gestalteten Komplex in hellen Farben. Es besteht aus einem kleinen und einem großen Haus, welch letzteres 511 Plätze bietet. Das Theater ist fächerförmig getaltet, und von jedem Platz hat man volle Sicht auf die Bühne. Die Akustik ist bestens. Die Premiere war nicht ganz ausverkauft, und ziemlich pünktlich begann die Vorstellung um 19:33. Dass nicht alle Plätze besetzt waren (es gab Lücken in den teureren ersten Reihen), liegt vielleicht daran, dass die Premiere am Brückentag zwischen dem donnerstäglichen Feiertag Christi Himmelfahrt und dem Wochenende lag. Erfreulich viele jüngere Besucher fanden sich im Publikum. Am Theater hatte sich seit meinem letzten Besuch nichts Wesenliches verändert. Im Orchester spielten zwei Kontrabässe und drei Celli. Die Herren des Orchesters trugen zur Feier der Premiere Frack. Die Zusammenarbeit mit der Presseabteilung war freundlich und problemlos.



Die Oper begann mit einer Überraschung: Statt Lutters Taverne blickten wir in eine Szene aus Mozarts Don Giovanni, in der eine Stella in Rokokokostüm die Arie der Donna Anna Or sai chi l´onore aus dem ersten Akt des Don Giovanni sang. (Diese Erkenntnis verdanke ich Opernfreund Herbert, der sie sofort erkannte). Begleitet wurde Stella von acht Musikern oben auf der Bühne. Nach ihrer Arie wurde sie auf der Bühne beklatscht und mit Blumensträußen überhäuft. Was für eine schöne neue Idee. Der Bezug zum Don Giovanni wird in vielen Inszenierungen hergestellt, oft nur über Lautsprecher angedeutet, und häufig ganz weggelassen. In Pforzheim wurde er szenisch dargestellt.



Dass eine komplette Arie aus dem Don Giovanni auf der Bühne gesungen wurde, noch dazu im Kostüm, das hatte ich in den vorhergegangenen 134 besuchten Inszenierungen und auch auf keiner der zahlreichen Aufzeichnung gesehen, die ich kenne. Und natürlich fand hier eine kurze Begegnung Hoffmann – Stella statt. Das war nun schon mal ein fulminanter Auftakt. Bescheidene Anregung für weniger erfahrene Kenner dieser Oper: Man könnte die Szene kurz in den Übertiteln erläutern, z.B. Die berühmte Sängerin Stella tritt in Mozarts Oper Dnn Giovanni auf, und der in sie unsterblich verliebte Dichter Hoffmann bewundert sie.


Dann erst kamen wir in Lutters Taverne. Dort wurde von der Muse die himmlische Apotheose auf Hoffmann gesungen, die sonst üblicherweise am Schluss folgt. Um die Muse herum turnte eine gelenkige Balletteuse, manchmal sogar noch eine. Dann erst folgten die Auftakte. Dank an den britischen Dirigenten Robin Davis, dass er sie richtig schön maestoso und nicht wie sonst leider so oft durchgehetzt spielen ließ. Hoffmann wurde aufgefordert, sich das Erzählen als Ziel zu setzen und sich in der Kunst zu befreien.


Ein stattlicher Lindorf, begleitet von einem 18köpfigen Männerchor, stellte sich mit gewaltiger Stimme vor. Und schon gab es den wichtigen ersten Szenenapplaus, der natürlich auch den lebhaft singenden Freunden Hoffmanns galt. Bei einer Premiere sind alle angespannt und nervös, ob denn auch alles gutgehen würde, und so ein erster Applaus beruhigt schon mal die Nerven.



Hoffmann trat in trübseliger Stimmung auf. Den Blumenstrauß, den er Stalla überreichen wollte, hatte er nicht losgebracht. Für den Klein-Zaches bekam Hoffmann kräftigen Applaus. Was die deutschen Üebrtitel anging, bekam ich den Eindruck, dass man in Pforzheim eine eigene Übersetzng angefertigt hatte.



Es klingelte, das Zeichen zum nächsten Akt im Don Giovanni. Doch Hoffmanns Freunde verzichteten darauf, ins Theater zurückzukehren und wollten lieber Hoffmanns Erzählungen lauschen. Der erste Akt hatte trotz der vorgeschalteten Arie der Donna Anna nur erträgliche 30 Minuten gedauert. Die Vorstellung des Lindorf könnte man noch um ein paar Zeilen kürzen, und Fausta und Gretchen braucht man auch nicht unbedingt zu erwähnen. Und ermutigender Applaus für den ersten Akt.


Im Olympia-Akt trat Spalanzani als extravaganter Rokokofuzzi auf. Ich hoffe, seine wirre graue Frisur sollte keine Anspielung an Einstein darstellen. Der war nämlich Mathematiker und kein Betrüger. Ein lebhafter und burschikoser Niklaus überzeugte sofort. Für die Vogelarie, in der er Hoffmann vor Olympia warnte, gab es gleich Szenenapplaus. Und tatsächlich, Hoffmann zögerte, bevor er zu Olympia ging. Nettes Detail der Regie. Coppelius wurde als mystischer Zauberer aus eine Welt der Magie vorgestellt. Für das Terzett Hoffmann – Coppelius – Nilkaus trois ducats gab es wiederum Applaus. Spalanzani wurde deutlich als Betrüger vorgestellt, der seinen Kompagnon Coppelius vorsätzlich hinterging.



Die Gäste auf Spalanzanis Fest waren wie zu einer Karnevalsparty gekleidet. Es gab ein sehr schnelles Lob auf Olympias Augen. Olympia erfreute uns mit strahlender und präziser Koloratur. Mittendrin applaudierten die Gäste auf der Bühne, aber das offensichtlich gut informierte Publikum roch den Braten und stimmte nicht ein. Hihi. Jubelnder und langer Applaus belohnte die Olympia, die fortan automatenhaft über die Bühne stakste. Dabei dominierte sie den verliebten Hoffmann komplett. Der wurde dann richtig gefesselt. Dann kam was kommen musste. Der betrogene Coppelius brachte die Trümmer der Olympia in einem Einkaufswagen herein. Kräftiger Applaus und Pause. Rundgang durch das weitläufige Foyer.


Der Antonia-Akt eröffnete mit einer selten zu hörenden romantischen Verklärung von Liebe und Glück, vorgetragen durch die Muse. Offensichtlich hatten sich die Pforzheimer Dramaturgie und Regie Mühe gemacht, sich auch außerhalb der üblichen Pfade zu bewegen. Erst dann stellte sich Antonia mit dem melancholischen Lied von der entflogenen Taube vor. Dafür bekam sie Applaus. Sie war gepflegt als höhere Tochter gekleidet. Ein Zuschauer meinte sogar, Anklänge an ein Schwarzwaldmädel zu erkennen. Kränklich wirkte sie gar nicht, eher eingeschüchtert. Vater Krespel kam passend mit Geige herein.


Das Bühnenbild war nüchtern und klar. Wenn man wollte, konnte man Särge über der Bühne sehen. Und dann mussten wir wieder einmal einen Franz über uns ergehen lassen, der, wenn gestrichen, von niemandem vermisst wird. Aber diese Nebenhandlung zieht diesen Akt noch mehr in die Länge, ohne etwas zur Entwicklung des Dramas beizutragen. In den Überiteln hatte die Dramaturgie mitgedacht: Er beklagte nicht seine mangelnde Methode, sondern die fehlende Technik. Antonia und Hoffmann bekamen Applaus für ihr Duett



Lockerheit und Bewegung entwickelten sich in diesem Akt erst, als der Konflikt Krespel – Mirakel anschauliich geschildert wurde. Die Mutter trat in düsterem schwarzem Kapuzenmantel auf, wie der Sensenmann, bairisch Boandlkramer, auch oft dargetellt wird. Umgeben war sie von dinklen Sargträgern, die gemessenen Schrittes nach vorne traten. Antonia blickte selig auf, als sie die Stimme ihrer Mutter vernahm. Grabesstimmung herrschte auf der Bühne als das großartig gesungene Terzett Mutter – Antonia – Miraklel erklang. Endlich durften wir einmal diese musikalische Leistung sowohl des Komponisten wie auch des Orchesters und der Sänger gebührend beklatschen und würdigen. Dank an den Dirigenten. Antonia starb in den Armen ihres Vaters. Und Applaus.



Nun hatte ich meine geliebte Geigenarie vermisst, aber gemach: Sie wurde als Pausenfüllerin während des Umbaus zum Giulietta-Akt von Niklaus vor dem Vorhang gesungen. Eine gute Idee.


Die veroherrschende Frabe im Giulietta-Akt war ein schwülstiges Rot. Nur ein paar Herren aus dem Chor trugen Schwarz. Zuerst wurde die Barkarole nur orchestral gespielt, wobei die Piccoloflöte ziemlich laut kreischte. Im vorhergegangenen Vilnius hatten sie das auch schon getan. So konnta man die üppig ausgestattete Bühne studieren. Aber wie es sich im pietistisch angehauchten Allemannien gehört, gab es keine Anzüglichkeiten, Nuditäten oder gar Dessous zu vermerken. Da war sogar die Met im puritanischen Amerika freizügiger. Giulietta hatte auch nichts Nuttiges an sich, sondern wirkte als elegante Salondame. Giuliettas Schoßhündchen Pitichinaccio dagegen schien wie ein Paradiesvogel aus einer bizarren Zauberwelt zu kommen. Hauptmann Dapertutto war auch in Rot und erinnerte mich an einen Luzifer. Dann erst sangen Niklaus und Giulietta die Barkarole.



Leider sang Dapertutto die werksfremde Spiegelarie des Andreas Bloch statt eine der beiden Originalmelodien Jacques Offenbachs, von denen die eine wesentlich abwechslungsreicher und melodiöser ist. Aber das Publikum hat sich wohl an diese spätere Einfügung gewöhnt.



Erotisch gurrend sang Giullietta das Preislied auf die Liebe. Das Duell Hoffmann – Schlemihl begann in Zeitlupe, bis es dann tödlich wurde. Dazu standen Giulietta, Dapertutto und Pitichinaccio in enger Umarmung zu einem flotten Dreier zusammen. Giulietta schmuste vor Hoffmanns Augen mit Pitichinaccio. Der Verlust des Spiegelbilddes fand kaum Erwähnung. Und dann musste Hoffmann erkennen, dass er wieder einmal getäuscht worden war.



Zum Finale erklang der melancholisch stimmende Hörnerchor fehlerfrei. Als Hoffmann mit seinen Erzählungen in Lutters Taverne fertig war, endete auch der Don Giovanni im Theater nebenan. Stella hatte wohl vergeblich auf Hoffmann gewartet und suchte ihn nun in seiner Stammkneipe. Eine schicke Stella kam in elegantem Hosenanzug und empfing Handküsse von ihren Bewunderern. Derweilen beklagte Hoffmann noch den Verlust von Olympia, Antonia und Giulietta. Hoffmann wirkte nun gar nicht betrunken. Stella und Hoffmann begegneten sich.



Was dann folgte, war völlig neu, selbst für jemanden, der schon über 134 verschiedene Inszenierungen dieser Oper gesehen hatte. Stella erinnerte Hoffmann daran, wie sich die beiden begegnet waren, doch Hoffmann verfluchte diesen Tag. Stella dagegen himmelte Hoffmann an und beschwor die gemeinsam erlebten schönen Stunden. Stella umarmte Hoffmann inniglich und besang ihre gemeinsame Liebe, doch Hoffmann wies sie ab. Noch schlimmer, Hoffmann beschimpfte sie als Sirene. Stella wirkte nun richtig verzweifelt und wollte Hoffmann nicht aufgeben. Doch der Dichter wies sie schnöde ab. Vielleicht dachte er, Stella sei keine reale Person, sondern eine Chimäre wie Olympia, Antonia und Giulietta. Enttäuscht ging Stella ab – ohne Lindorf. Ich rieb mir innerlich die Augen. So etwas hatte ich noch nie auch nur andeutungsweise gesehen. Das war völlig neu.



Dann sang die Muse von Liebe. Schmerz und Größe, die aus dem Schmerz erwächst, und der Chor stimmte ein. Und Vorhang. Spontaner Applaus und Jubel des Publikums. Nach fünf Minuten Premierenapplaus klatschte das Publikum rhythmisch, und die Hälfte der Zuschauer spendete stehend Applaus.



Nun muss erläutert werden, wie es zu diesem Schluss kam. Die Erklärungen gaben mir Dramaturg Klemens Renoldner und Regisseur Markus Hertel auf der Premierenfeier. Bekanntlich hinterließ Jacques Offenbach nach seinem Tod eine Menge an Skizzen und Aufzeichnungen, auch mehrere Melodien zu Passagen aus dem Libretto. Leider hinderte ihn der Tod daran, eine eigene Auswahl zu treffen. Viele dieser Entwürfe gingen über einhundert und mehr Jahre verloren. Erst 100 Jahre nach der Uraufführung war die ursprüngliche Gestalt der Oper wieder einigermaßen hergestellt. Und noch immer tauchen neue Fragmente auf. Und nun in Pforzheim wurde ein solches uraufgeführt und in die Oper eingefügt. Dank und Gratulation an die Pforzheimer Regie. Ich hoffe, die Fachpresse (zu der ich laut Presseabteilung der Stuttgarter Oper nicht gehöre) nimmt von diesem neuen Detail Kenntnis. Mit dieser Ergänzung gewinnt der Schluss dieser Oper einen ganz neuen Sinn. Innovative Inszenierungen dieser Oper sind selten. Seit 2007 erlebte ich fünf oder sieben avantgardistische Interpretationen. In Pforzheim fand die Avantgarde im ersten und fünften Akt statt.



In Pforzheim musste ich wieder einmal an die Worte des leider verstorbenen Hoffmann-Pioniers Josef Heinzelmanns denken, der mir 2008 nach einer Premiere sagte: In der Provinz (sit venia verbo) wird hart gearbeitet. Pforzheim hat das wieder einmal bewiesen. In den Metropolen wird meist Einheitsbrei mit teurem Bühnenbild und noch teureren Sängern serviert, siehe z.B. die letzte Inszenierung in Hamburg.



Sonst bleibt die Stella oft stumm oder sie sagt bzw. singt nur wenige Sätze. Dass sie sich redlich um den Hoffmann bemüht, den sie zuvor verlassen hatte, war neu. Was mag den Hoffmann zu dieser Abweisung bewogen haben? Er schien ihr nicht zu trauen: Lasse ich mich erneut auf sie ein, verlässt sie mich vielleicht bald wieder? La donna è mobile …













Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen bei und beim Fotografen...... Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.



















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