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Die Zeitlosigkeit der »Contes d'Hoffmann«



Warum ist die Oper »Hoffmanns Erzählungen« immer noch so beliebt? Die Erklärung ist nicht schwer: Sie handelt von menschlichen Konflikten und Problemen, die heute so aktuell sind wie zu E.T.A. Hoffmanns und Jacques Offenbachs Zeiten. Natürlich sind die Charaktere in dieser Oper Fiktion. Doch der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein veranschauliche das Verhältnis Literatur – Wirklichkeit, als er sagte: „Fiktion bedient sich der Realität und wirkt in die Realität hinein.“ In der Tat tragen alle Charaktere, vielleicht mit Ausnahme des Niklaus (der nicht von E.T.A. Hoffman stammt), fantastische Züge, aber E.T.A. Hoffmanns Gestalten sind so genial und lebensnah fiktionalisiert, dass man sie leicht wiedererkennt, weil sie uns täglich im wirklichen Leben begegnen. Diese Kunst beherrschte z.B. auch Joseph Heller, der uns in seinem legendären Antikriegsroman Catch 22 lauter absurde Charaktere vorführt, die man aber sowohl in der Welt des Militarismus und besonders der Politk zuhauf finden kann.

Und so bediente sich E.T.A. Hoffmann unserer täglichen Irrungen und Wirrungen und setzte sie in seine eigenen literarischen Rahmen, aus denen sie nun wieder als fantastische Fabelgestalten heraustreten und uns faszinieren und auf uns einwirken.

Welcher Mann wurde nicht einmal in seinem Leben von einer Frau aus einer augenblicklichen Laune heraus verlassen und wurde dann später wieder unter Bedauern um Verzeihung gebeten? Und welcher Mann hegt dann nach erlittenem Liebeskummer kein verständliches Misstrauen gegen eine solche Frau? Hoffmann reagiert auf Stellas Versöhnungsfühler skeptisch wie jeder normale Mann.

Die Geschichte von Spalanzanis Olympia mag man aus heutiger Sicht belächeln, doch sie ist topaktuell, wenn auch technisch nicht auf dem neuesten Stand. In der griechischen Mythologie formte Pygmalion aus Elfenbein seine Galatea und bat dann Aphrodite, sie zum Leben zu erwecken. Aphrodite erhörte seine Bitten. Galatea wurde lebendig und beide heirateten. Die japanische Firma Orient Industry produziert weibliche Sexpuppen, die so lebensecht aussehen wie die Wachsfiguren Madame Tussauds und sich so anfühlen wie eine Menschenfrau. Weitere Firmen bauen ähnliche Puppen und verdienen viel Geld damit, wie das auch Spalanzani vorhat. Und Coppélius macht Olympia mit seinen magischen Augen noch lebensechter. Heute haben die raffiniertesten solcher Sexpuppen ein höchst kompliziertes technisches Innenleben. Der US-Autor David Levy prophezeit in einem Buch »Love and Sex with Robots« (New York, 2007) eine strahlende Zukunft für perfekte und mit Gefühlen ausgestattete Sexautomaten.

Also, alles schon mal dagewesen und immer noch aktuell. Und Coppélius verpasst dem naiven Dichter eine rosarote Brille, damit der den Betrug nicht merkt. Da denkt man doch gleich an die fixen Spin-Doctors, die es immer wieder versuchen und meistens auch schaffen, unfähige und korrupte Politiker als Strahlemänner zu präsentieren, damit die auch ja wiedergewählt werden, nicht wahr, Mssrs. Geroge W. Bush, Tony Blair und Konsorten? Und ganze Industrien beschäftigen sich heutzutage damit, Computeranimationen immer lebensnaher werden zu lassen. Der virtuelle Schein bestimmt das Sein. Die kommerzielle Traumfabrik Hollywood samt ihren elektronischen Ablegern im Privatfernsehen gaukelt uns 24 Stunden am Tag eine weitgehend virtuelle Scheinwelt vor, deren Inhalte mehr und mehr die unseres Bewusstseins werden und schon eine ganze Generation von Kindern geprägt haben.

Zum inneren Konflikt der Antonia braucht man nur wenig zu sagen: Sie muss sich - ganz modern - entscheiden zwischen Kind und Karriere, zwischen ihrer Liebe zu Hoffmann mit möglicher Heirat und der Karriere als Sängerin. Unter dem Einfluss Mirakels entscheidet sie sich für die Karriere. Mirakel als feministischer Einflüsterer?

Selbsternannte medizinische Scharlatane gibt es schon immer. Auch heute treiben sie noch ihr Unwesen auf Kosten des Leides anderer Menschen. Welcher medizinischen Schule Mirakel angehört, lässt sich nur vermuten. Zu der Zeit, als das dem Libretto zu Grunde liegende Schauspiel geschrieben wurde, existierte noch keine wissenschaftliche Medizin im heutigen Sinne außer einer Erfahrungsmedizin. Ärzte behandelten Leidende oft noch mit nach heutigem Kenntsnisstand kontraindizierten Methoden wie Aderlass und Brechmitteln. Es gab allerdings eine heute noch angewendete Medizinschule, der wenigstens eine Theorie zu Grunde liegt: die Homöopathie. Die Wirksamkeit ihrer Therapie ist zwar bis heute unbewiesen, kann aber wenigstens nicht schaden. Wirksame und naturwissenschaftlich gesicherte Therapien gab es nicht. Im Libretto wird Doktor Mirakel mit seinen Fläschchen vorgestellt. Damit arbeitete auch schon damals die Homöopathie. Auch erheben Homöopathen eine ausführliche Anamnese wie Mirakel das von Antonia tut, da sie die Anamnese einer Erkrankung als wesentlich für eine erfolgreiche Behandlung ansehen. Das wird auch im Libretto erwähnt. Außerdem war Samuel Hahnemann (1755 – 1843) in Paris bestens bekannt, wo er seine letzten acht Lebensjahre mit seiner jungen französischen Frau verbrachte. Seine Therapie war in Paris umstritten. Einer seiner Patienten war der Geiger Nicolo Paganini.

Auch die Geschichte mit Giulietta ist so aktuell wie zu Zeiten des Alten Testaments und wie zur Zeit von Domenica. Dass eine Hure viel versprechen muss und meist wenig hält, ist nichts Neues. Dass Männer in sexueller Verblendung ihre Seele verkaufen, braucht auch nicht näher belegt zu werden. Der Wahn ist kurz, die Reu meist lang. Und das Spiel ist immer wieder das gleiche, nur die Akteure wechseln. Dass Zuhälter (und neuerdings auch ZuhälterInnen) an der Prostitution mehr verdienen als die von ihnen ausgenützten Frauen, braucht auch nicht näher erläutert zu werden. Hoffmanns Spiegelbild geht ja nicht an Giulietta, sondern an Dapertutto.

Und die finanzielle Seite wird auch nicht ausgespart. Das Bankhaus Elias mag in der Oper immer wieder pleite gehen. In der realen Welt tun das dessen Gesinnungsgenossen Richard S. Fuld von den Lehman Bros. und die Bernies Cornfeld und Madoff.

Und weil wir schon bei bösen Männern sind: Darüber, warum es denen immer wieder gelingt, dem Rest ihrer Mitmenschen das ohnehin nicht einfache und zeitlich sowieso Dasein noch unerfreulicher zu machen, hat sich noch niemand ernsthaft Gedanken gemacht. Es wäre mal an der Zeit das zu tun. »Hoffmanns Erzählungen« bieten dazu eine hervorragende Anregung. Über die Militärs und lächerliche Herrscher hat sich Jacques Offenbach in anderen Werken ereifert, z.B. im Orpheus und in der Großherzogin. Wie im wirklichen Leben handeln die Bösewichte Lindorf, Spalanzani, Coppelius, Mirakel und Dapertutto aus eigenem Antrieb und anscheinend ganz selbstverständlich, als gäbe es nichts Natürlicheres.

Bis vor kurzem noch meinten ja eine ganze Reihe naiver Psychologen, Soziologen, Theologen und Moralphilosophen, der Mensch sei von Natur aus gut und werde nur durch die bösen Umstände, z.B. den Kapitalismus oder den Teufel höchtspersönlich, zum Unmenschen. Nichts ist falscher. Das Böse ist immer und überall und steckt angeboren in uns. Der Harvard-Anthropologe Richard Wrangham hat das in seinem Buch Demonic Males überzeugend nachgewiesen. Ein Buch mit dem Titel Demonic Females fehlt noch, ist aber im Libretto der Contes schon angedacht. Und wie im richtigen Leben kommen die Bösewichte ungestraft davon. Der eklige Machtmensch Lindorf bekommt seine Stella und behält sein Amt, Mirakel scheint seine Approbation nicht zu verlieren, Dapertutto macht sich mit Giulietta und deren Beutestücken ungehindert davon. Nur Coppelius sieht alt aus mit seinem geplatzten Scheck. Spalanzani dagegen scheint nicht unbedingt pleite gegangen zu sein. Auch bei Wagners Nibelungen überlebt das Böse in der Gestalt des Alberich. Ja, und auch Hoffmann, der Schlemihl und in der Kaye-Keck-Version auch Pitichinaccio umgebracht hat, wird keinem Richter zugeführt.

Philosophisch und psychologisch ist die Oper »Hoffmanns Erzählungen« sowieso toppaktuell. Was ist wirklich, was nicht, ist eines der ältesten Themen der Philosophie und heißt Erkenntniskritik. Zur Zeit befasst sich die Hirnforschung mit diesem Thema und findet aufregend Neues, wie unser Gehirn unsere Wahrnehmungen manipuliert. Wir wissen inzwischen ziemlich sicher, das die Wirklichkeit, die wir wahrzunehmen glauben, zu weiten Teilen ein Produkt unseres eigenen Gehirns ist. Spalanzani, Coppelius und Niklaus wissen, dass Olympia ein Automat ist, Hoffmann dagegen will sie nicht als solchen erkennen. Die Zauberbrille nimmt er willig an. Genauso geht es täglich Tausenden von Menschen, die sich neu verlieben. In vielen Fällen ist der Lack bald ab. Andererseits wäre unser Leben todlangweilig, wenn wir uns nicht immer wieder in neue Abenteuer stürzen würden und könnten. Die Aussicht auf neue Erlebnisse ist einer der Motoren unseres Weiterlebens. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ...

Dass es kein dauerhaftes, ekstatisches Glück gibt, wissen wir, seit die Hirnforscher Botenstoffe und deren Rezeptoren entdeckt haben. Glückshormone werden bald wieder abgebaut, und Rezeptoren sind bald blockiert. Geahnt haben muss das mein Lieblingsphilosoph Epikur (ca. 340 - 270 vor Christus), der Glück - ganz minimalistisch - als Abwesenheit von Schmerz definierte. Ähnliche Gedanken finden wir in der Apotheose des »Hoffmann«. Epikur warnte auch vor dem hemmungslosen Genuss, der letzten Endes nur zu Schmerz führe. Ganz Ähnliches lehrte die stoische Schule: hedonistischer Genuss im Exzess führt zwingend zum Verdruss. Und in dieser Hinsicht macht ja unser Hoffmann einige Lernprozesse durch.

Sigmund Freud (geboren 1856) und Jacques Offenbach (gestorben 1880) wandelten ein paar Jahre zusammen auf dieser Erde. Allerdings hatte der Doktor Freud bei Jacques Offenbachs Tod noch nicht seine Theorie des Ödipus-Komplexes veröffentlicht, aber sie muss in der Luft gelegen sein, denn wie sonst ist die Dichotomie Hoffmann einserseits sowie Lindorf, Coppélius, Mirakel und Dapertutto andererseits zu deuten? Geistesgeschichtlich wird die Romantik, vertreten hier durch E.T.A. Hoffmann, als Gegenreaktion zur Aufklärung gesehen. Das Postulat nach einem Leben gemäß den Leitlinien der Vernunft überforderte viele Menschen, da sie auf Altgewohntes und ein emotional bestimmtes Leben nicht verzichten wollten und konnten – wie so viele heutige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Und so feierten das Unheimliche, Geister und Übersinnliches fröhliche Urständ, wie das ja unsere Oper reichlich bietet.

Doch auch die Vernunft ist vertreten in Gestalt der Muse bzw. des Niklaus, die lange vergeblich versucht, den idealistischen und begeisterungsfähigen Sponti Hoffmann von seinen zum Scheitern verurteilten Liebschaften abzubringen. Wie es sich gehört, triumphiert die Vernunft schließlich in der Gestalt der Muse, geistesgeschichtlich durchaus korrekt. In der Romantik wurde die Inspiration gerne personifiziert, während man vorher einen göttlichen Ursprung der Eingebung annahm. Die Muse bringt Hoffmann wieder auf den nicht ganz so spektakulären Weg der Vernunft. Sie vertritt das Realitätsprinzip und gewinnt letztendlich den Hoffmann für sich. Deswegen mag ich keine Experimente mit einem Finale, in dem Hoffmann stirbt oder Selbstmord begeht. Das passt nicht in die Logik dieser Oper, jedenfalls was das Geistesgeschichtliche angeht. Ein Tod beendet zwar eine Reihe Probleme, ist aber keine Lösung, jedenfalls nicht für diese Oper. Die Librettisten, und sicherlich auch Jacques Offenbach, bringen den Hoffmann am Schluss wieder zurück auf die Erde und in deren nicht immer fantasievolle Wirklichkeit. So ist das Leben nun mal eben. Und schließlich hat Jacques Offenbach mit der Musik der Apotheose alles andere als ein Requiem komponiert. Der Bläserchor, der das Finale einleitet, klingt ernüchternd, aber nicht wie eine Leichenmusik. Und die Musik der Apotheose ist einfach nur erhebend und klingt ganz anders als z.B. Siegfrieds Tod.

Die Person der Muse geht nicht auf einen Charakter aus E.T.A. Hoffmanns Werken zurück. Sie ist eine geniale Erfindung Michel Carrés uns Paul Barbiers. Möglicherweise ließen sie sich bei ihrer Erschaffung von zwei Quellen beeinflussen. In Molières Komödie Don Juan hat der Titelheld einen treuen Diener namens Sganarell, der ihn bei seinen Abenteuern begleitet. Diese Figur erscheint im Libretto der Oper Don Giovanni als Leporello, der in einigen Aspekten dem Niklaus ähnelt, in anderen wiederum nicht. Nachdem die Oper Hoffmanns Erzählungen mit einer Referenz an Don Giovanni beginnt, ist es wahrscheinlich, dass Sganarell und Leporello für die Autoren des dem Opernlibretto zu Grunde liegenden Schauspiels als Vorbilder gedient haben. In einigen Aufsätzen zu Hoffmanns Erzählungen wurde die Figur der Muse als mystisches oder geheimnisvolles Wesen bezeichnet. Das muss sie nicht sein. Sie ist eigentlich die einzig normale, vernünftige und moralische Gestalt in dieser Oper, also alles andere als mystisch.

Sie ist ja ein Zwitterwesen. Einerseits stieg sie vom Götterhimmel herab, andererseits ist sie ganz Mensch, dem Gottessohn Jesus Christus nicht unähnlich. Wie Jesus die ganze Menschheit retten sollte, will die Muse ganz bescheiden den irrenden Hoffmann von seinen Verblendungen wieder in die Wirklichkeit zurückholen. Sehen wir uns die Mitte des 19. Jahrhunderts einmal geistesgeschichtlich an: Immanuel Kant war schon ein halbes Jahrhundert tot, aber seine revolutionären Ideen hatten und haben sich noch lange nicht durchgesetzt. Die Romantik als Stilepoche war zwar vorbei, nicht aber die Sehnsucht der Menschen nach romantischen Erlebnissen.

Jacques Offenbach (1819 – 1880) und Richard Wagner (1813 – 1883) waren ungefähre Zeitgenossen, und auf den ersten Blick scheint es nichts Konträreres als ihre Opern zu geben. Aber sie haben auch etwas Gemeinsames: die alte Welt der Illusionen geht unter. Bei Wagner sind es die germanischen Götter und Helden, bei Jacques Offenbach sind es die Illusionen des Individuums Hoffmann. Auch in vielen seiner Operetten zerstörte er Mythen. In der Wahl seiner Stilmittel war er gottseidank ganz anders als Wagner. Aber immer wieder zeigt sich der Wahrheitsgehalt des Dictums aus Horazens Ars Poetica, dass der Dichter ein Seher ist, der Kommendes erahnt und verkündet. Die genialen Dichter Michel Carré und Jules Barbier waren viel vorwärtsgewandter als der Librettist Richard Wagner, der in seinen Götter- und Heldenmythen schwelgte. Zwar ließ er außer dem bösen Alberich alle untergehen, aber mit einem derartig bombastischen Tamtam, dass man davon nur hingerissen sein kann. Lösungen bietet er hingegen nicht an.

Ganz anders die beiden Franzosen Carré und Barbier. Hoffmanns Wahn und Wähnen dauern viel kürzer und sind leichter zu durchschauen als das Walten und Wüten von Wagners Göttern und Heroen, mit denen sich unsere niederen Instinkte stundenlang identifizieren können. Hoffmann wird dreimal sehr bald in die nüchterne Wirklichkeit zurückgeführt. Aber anders als bei Wagners Getöse blickt Jacques Offenbachs sensible Oper in die Zukunft und weist dem desillusionierten Dichter einen gangbaren Weg für sein weiteres Dasein: folge deiner Bestimmung auf Erden und widme dich dem edelsten Streben des Menschen, nämlich der Kunst. Seine Ausflüge in die Welt der Illusionen und sein Scheitern haben der Opernprotagonist wie der reale Hoffmann kreativ genützt: es wurde gute Literatur daraus gemacht. Und das Geniale an diesem Libretto ist: die Literatur wird als solche dargestellt. Sie ist fantastisch, aber nicht wirklich. Der russische Regisseur Dmitri Bertman hat dies in seiner Inszenierung so plastisch dargestellt, als er am Schluss seiner Contes aus den Händen Olympias, Antonias und Giuliettas, die auf einer Empore stehen, Blätter mit ihren jeweiligen Erzählungen auf den am Boden unter ihnen liegenden Hoffmann hinabregnen ließ. Anschaulicher kann man das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit nicht darstellen.

Der Schluss von Hoffmanns Erzählungen kann also nur positiv und vorwärtsgewandt interpretiert werden: Stelle dich der Realität! Das verlangte Immanuel Kant (1724 - 1804). Und in der Folge der Aufklärung leben wir heute alle besser, wenn wir uns dieser Wirklichkeit stellen, als dauernd in eine Fantasiewelt zu flüchten. Die Zeit der Hippies ist auch wieder vorbei, wenngleich sie ihren Charme hatte.

Wir haben mit dieser Oper ein eigentlich ganz untypisches Ende. Weder Tod noch Verklärung beherrschen die Bühne. Die Hauptpersonen haben alle überlebt und müssen sich weiter der Wirklichkeit des Lebens stellen. So unheroisch, wie auch unser Alltag zu sein pflegt, tut Hoffmann am Ende der Oper nichts Großartiges. Er wird seiner Bestimmung als Dichter zugeführt und damit vor Aufgaben gestellt, die er zu erfüllen hat. Keine große Dramatik steht ihm bevor, sondern harte Arbeit, wie jeder weiß, der einmal ein Buch geschrieben hat. Das ist die schönste Botschaft dieser Oper an die Menschheit: Lasst die Finger von der unrealistischen Schwärmerei und Verblendung und widmet euch stattdessen dem Edelsten, das der Mensch zu schaffen im Stande ist, nämlich der Kunst. Kein Heroismus, kein gewaltsames Ende, keine Himmelfahrt.

Ein weiterer Zeitgenosse Offenbachs und Wagners war Karl Marx (1818 – 1883), der ja auch zu den großen Zerstörern gehört. (Alle drei lebten und wirkten übrigens ganz oder teilweise in Paris und hätten sich durchaus begegnen können.) Wie Wagner die Heroen untergehen ließ, desillusionierte Marx den Kapitalismus, indem er dessen Mechanismen analysierte und bloßstellte. Wie wir gerade wieder einmal schmerzlich erfahren mussten, ist dieser unmenschliche Kapitalismus alles andere als tot. Und auch Adolf Hitler (1889 – 1945) hat den von Wagner beerdigten mythischen Heroismus wieder auferstehen lassen, wenn auch nur vorübergehend. Sowohl Wagner wie auch Marx zerstörten, ohne Lösungen anzubieten. Das ist gefährlich. Was morbide ist, muss weg, das ist klar. Aber der Mensch braucht gangbare Alternativen für Verlorenes. Man führt heute keine Eroberungskriege mehr, ebensowenig wie man keine Sklaven mehr hält. Dafür bietet die moderne Zivilisation andere Abenteuer und Vorteile. Auch der Raubtierkapitalismus hat längst ausgedient und ist mittelfristig zum Untergang verurteilt. Das weiß jeder weiter denkende Mensch. Das Problem ist nur, dass es nirgends eine gangbare Alternative zu ihm gibt, nachdem das Leninsche Modell gescheitert ist.

Was hat das nun mit den Contes d´ Hoffmann zu tun? Sehr viel. Die Postmoderne versteht sich als die Epoche nach dem Ende der großen Entwürfe. Kapitalismus, Leninismus und Religionen sind Auslaufmodelle, selbst wenn das einige Fußkranke der Geistesgeschichte noch nicht gemerkt haben und verzweifelte Rückzugsgefechte führen. Eindeutige Ersatzmodelle und Neuentwürfe von ähnlichen Dimensionen, wie sich die Menschen in Zukunft organsieren sollen, sind aber noch nicht in Sicht. Aber das kann sich ändern. Es gibt eine Reihe verstreuter kleinerer Ansätze, z.B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Und es gab und gibt in der Kunst immer einmal wieder kluge Werke, die ganz unheroische Wege in die Zukunft gewiesen haben. So hat William Shakespeare mit Hamlet den zweifelnden modernen Menschen entworfen, und Gotthold Ephraim Lessing hat mit Nathan dem Weisen den toleranten Humanismus skizziert. In Verdis Nabucco befreien sich die Juden von ihrer Knechtschaft. Und auch Michel Carré, Jules Barbier und Jacques Offenbach haben ihren kleinen Beitrag mit ihrer unheroischen Oper geleistet, indem sie schon vor Sigmund Freud die reizvolle aber zweifelhafte Rolle der Triebe und Illusionen in unserem Leben exponiert haben. Ohne individuellen Triebverzicht ist laut Freud keine Zivilisation möglich. Anders als Marx und Wagner, aber wie Sigmund Freud mit seiner Psychoanalyse, haben die Schöpfer dieser Oper eine Lösung angeboten – eine ganz unheroisch postmoderne, und ganz ohne Tamtam.

Lassen wir uns also weiter begeistern von dieser wunderbaren Oper mit ihrer zauberhaften Musik und ihrer Botschaft: Lass dich entführen in ein Reich des Geheimnisvollen und Zauberhaften, aber kehre wieder - wenn auch ziemlich verkatert von den Ausflügen in die Irrationalität - in die reale Welt der eigentlich gar nicht so üblen Vernunft zurück. Auch den schlimmsten Rausch kann man ausschlafen.

E.T.A. Hoffmann ist zwar tot, aber sein Werk lebt weiter und Michel Carrés, Jules Barbiers und Jacques Offenbachs Meisterwerk ist eine der lebensnächsten Opern überhaupt. Und ich kann der Diva Annick Massis nur zustimmen, die nach dem »Hoffmann« in Nizza am 21. Januar 2009 zu mir sagte: „C'est une opéra très philosophique". In diesem Sinne sollte sie auch inszeniert werden.

In einem Buch, das zu der Zeit geschrieben wurde, als Jules Barbiers und Michel Carrés Schauspiel erschien, schrieb der Autor ein paar Zeilen, die mir wie auf den Charakter Hoffmann gemünzt erscheinen:

Die höchste Lebendigkeit der Gefühle ist die Begeisterung, der Enthusiasmus. Hier tritt die innerste Gewalt der Gefühle hervor, die nicht berechnet werden kann, und von der sich Niemand Rechenschaft zu geben vermag. „Alles Große ist nur geschehen durch Begeisterung. Alle Helden sind von Begeisterung getrieben, erfüllt von göttlichem Wahnsinn. … Alle Wissenschaft und Kunst ist nur durch Enthusiasmus groß geworden. Begeisterung erst schafft hohe Liebe; sie ziehet den Liebenden zur Geliebten, von der er deshalb nicht lassen kann, weil seine Natur in der ihrigen sich vervollständigt.“ (Ob und wen der Autor hier zitiert, ließ er uns nicht wissen.)

Aus: Eduard Süskind, Natur und Menschenwelt, Stuttgart 1858, S. 544



E.T.A. Hoffmann – nur ein Geisterseher?

Immer wieder liest man über E.T.A. Hoffmann, er sei ein Verfasser von skurrilen Geschichten, die von absurden Gestalten wimmeln, oft wird er als Gespenster-Hoffmann diffamiert. Man kann sich fragen, ob solche abfälligen Meinungen einer gründlichen Analyse standhalten. Michel Carré und Jules Barbier haben hier E.T.A. Hoffmann wohl besser verstanden als solche oberflächlichen Betrachter. Worum geht es in den Contes? Die Gestalt des Hoffmann ist die eines Getriebenen, und zwar von innen wie von außen. Hoffmann ist seinen Trieben hilflos ausgeliefert. Er ist verzweifelt, weil ihn seine geliebte Stella verlassen hat. In den drei Hauptakten wird dieses Verlassenwerden in eine Fantasiewelt transponiert, in der aber durchaus reale Gestalten auftreten. Außerdem wird im Libretto überdeutlich gemacht, dass Hoffmann in seiner Begeisterungsfähigkeit und Naivität eine gehörige Mitschuld an seinem Scheitern trägt, am wenigsten jedoch im Antonia-Akt, am deutlichsten im Giulietta-Akt. Wie menschlich ist das alles! Wie gerne geben wir uns Illusionen hin, wenn sie nur einen Hauch von Extase versprechen. Wie gerne lassen wir uns in Euphorien treiben, obwohl das Scheitern vorprogrammiert ist, solange die geringste Hoffnung auf ein gefühlsschwangeres Abenteuer lockt.

Hermann Hesse dichtete:

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu begeben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.



Fast ein Programm für diese Oper. Der Charakter Hoffmann folgt seinen Trieben, und die wiederum werden ausgenützt von bösen Charakteren, wie sie uns im täglichen Leben begegnen. Eine Konstellation, in der beides ineinandergreift und in der das Scheitern vorprogrammiert ist. Dass E.T.A. Hoffmann einigen dieser Gestalten eine gespenstisch wirkende Überzeichnung angedeihen ließ, ist sein gutes Recht als Dichter. So besonders lebensfern wirken diese Gestalten allerdings nicht, wie oben geschildert wurde. Professor Spallanzani hat es wirklich gegeben, und er hat die erste bekannte künstliche Befruchtung eines Säugetieres geschafft. Was einige verantwortungslose Ärzte und viele esoterische Medizin-Scharlatane mit ihren Patienten anstellen, lesen wir immer wieder in der Presse. Und für Hauptmann Dappertutto finden wir vielfache Gestalten aus dem wirklichen Leben.

Die beiden Librettisten haben diese Konstellation hervorragend erkannt, im Gegensatz zu manchen E.T.A. Hoffmann-Kritikern, Goethe eingeschlossen: der von seinen Emotionen Getriebene wird von denen ausgenützt, welche die Schwächen ihrer Mitmenschen gnadenlos ausbeuten. Die beste Satire und Parodie auf das Leben ist diejenige, die sich in ihrer Überzeichnung nicht zu weit von der Wirklichkeit entfernt, so dass diese erkennbar bleibt. Und genau das haben sowohl E.T.A. Hoffmann wie auch die Librettisten erkannt.

E.T.A. Hoffmann bechwört keine Geister, sondern Urängste des Menschen. Er kolportiert keine absurden Geschichten, sondern führt uns vor, was uns ängstigt, was uns treibt, wo wir scheitern und wo wir gefährdet sind. Solche Urängste kann man nicht weiter zerlegen, man kann sie nicht leugnen, weil sie in uns angelegt sind und weil sie uns tagtäglich quälen. Und diese Urängste wollten uns die drei Dichter vorführen, damit wir uns mit ihnen auseinandersetzen können. Das ist immer noch viel besser, als sie einfach zu leugnen oder zu verdrängen. Es war ein genialer Einfall der beiden Librettisten, die Figur der Muse einzuführen, die quasi als Führer des Hoffmann auf seinem LSD-Trip fungiert, aus dem er erst zum Schluss wieder in die Wirklichkeit zurückkehrt. Hoffmanns Träne quillt, die Erde hat ihn wieder.

Je näher ich mich mit E.T.A. Hoffmann befasse, um so mehr komme ich zu der Überzeugung: E.T.A. Hoffmann war kein Geisterseher, er war ein Menschenseher. Und in seinen Erzählungen führt er uns diese Ängste vor in Form von Fantasiestücken. Ein gutes halbes Jahrhundert später begann Sigmund Freud, diese Ängste wissenschaftlich zu analysieren. Und hat sich Freud nicht auch mit E.T.A. Hoffmann befasst? Er hat. In dem Aufsatz Das Unheimliche von 1919.

Und in diesem Sinne sollte diese Oper auch interpretiert werden. Dauerbezüge zur inneren und äußeren Wirklichkeit des Individuums Hoffmann sind nicht nur erwünscht, sie sind unvermeidlich, wenn diese Oper richtig verstanden werden soll. Es gibt mehrere Wege zu einem guten Verständnis dieser Oper. Die meines Erachtens besten haben uns die Inszenierungen Christof Nels in Mannheim, die von Johannes Erath in Bern und die Thilo Reinhardts in Berlin gezeigt. Auch Dmitri Bertmans Interpretation mit der Kollusion von Muse und Widersacher ist richtungsweisend.

Wer aus dieser Oper einen Klamauk macht oder sie wie Richard Jones in München als „französischen Boulevard“ abtut, sollte sich mal ein paar Tage Zeit nehmen und E.T.A. Hoffmann lesen, und wenn er den nicht kapiert, die Finger von diesem Stoff lassen.

Bei meinem Besuch der voll gelungenen Hoffmann-Premiere in Essen im Herbst erfuhr ich auf der Premierenfeier, dass den Darstellern während der Erarbeitung des Stückes die intensive Lektüre der Geschichten E.T.A. Hoffmanns verordnet wurde. Das sollte Schule machen.

Im Hinterkopf habe ich ein geflügeltes Wort: Nichts ist wirklicher als die Fantasie. Das klingt wie ein Widerspruch in sich, ist es aber nicht. Unsere Wahrnehmung wird immer von unserem subjektiven Erleben geprägt und verändert. d.h. wir nehmen die Realität nicht als solche wahr, sondern ein von unserem persönlichen Erleben verfremdetes Abbild von ihr. So bekommen also selbst nackte Tatsachen einen persönlichen Touch, der von unseren Ängsten, Erfahrungen und Erwartungen gefärbt wird. Diese Welt der Fantasie ist unserem innersten Wesen viel näher als die nüchterne Realität. Und deswegen begeistern wir uns weniger für mathematische und physikalische Formeln, sondern viel mehr für eine fantastische Oper wie »Hoffmanns Erzählungen«. Denn diese Oper bietet uns beides: die Welt der Fantasie und die Welt der Wirklichkeit. Beide brauchen wir, denn ohne Fantasie wäre unser Leben ziemlich arm, und wenn wir die Wirklichkeit ignorieren, dann schlägt diese brutal zurück. Hoffmann musste das erleben und erzählt uns seine Geschichte.











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