Dieser Text basiert auf einem Artikel für die PRO BAHN Post
August 1996 und einer Ergänzung für die PRO BAHN Post
September 1996. Eine Gesamtfassung erschien in der
PRO BAHN Zeitung 4/1996   Bearbeitungsstand: August 1996

Marketing und Vandalismus verändern die S-Bahn-Züge ...
... und der Fahrgast fragt sich, was von beiden schlimmer ist.

Früher einmal waren in München die S-Bahnen weiß-blau lackiert, hatten blaue Sitze, ein Tischlein unter dem Fenster, darunter ein Behältnis für Abfälle und die Sitze hatten rechts und links Armlehnen. Zur Idylle fehlten eigentlich nur noch ein gehäkeltes Deckchen und Gardinen an den Fenstern. Daß die Farben von Fahrzeugen des größten Schienenverkehrsanbieters im Lande mindestens so häufig wechseln müssen wie dessen Vorstandsvorsitzende, haben wir inzwischen verstanden. Erst wurde das weiß-blau mit importiertem orange durchmischt, dann wurde das orange-beige zum bundeseinheitlichen Standard erklärt (gilt selbstverständlich nicht für Berlin und Hamburg), dann kam ein gelber Streifen hinzu. Aufgelockert wurde das Ganze zunehmend durch Graffiti- und Werbeverunzierungen. Ersten Gerüchten zufolge geht die Entwicklung in Zukunft vielleicht zu einem geschäftsbereichseinheitlichen rot. Oder vielleicht doch wieder bestellereinheitlichen weiß-blau?

Ärgerlicher als Veränderungen der Außenhaut waren für die meisten Fahrgäste dann doch die Entwicklungen im Innern der Abteile. Der zunächst fast unbekannte, dann aber immer weiter zunehmende Vandalismus konzentrierte sich zuerst auf die Ablagetische. Mehr als zwei Schrauben hatten diese dem gewaltsamen Entfernen nicht entgegenzusetzen. Nachdem relativ bald sich das Gleichgewicht zwischen Abreißen und Neumontieren zuungunsten der Tischlein verschob, folgte die völlige Kapitulation der DB. Entweder sah man nur noch zwei Schrauben oder eine glatte Wand. Mancher Fahrgast ohne S-Bahn-Historie wundert sich, wenn er zum erstenmal ein übriggebliebenes Tischlein sieht und fühlt sich vielleicht als Bestandteil eines Feldversuchs "Aktzeptanzuntersuchung zur Einführung von Ablagetischen in Fahrzeugen der Münchner S-Bahn".

Ein ähnlich unrühmliches Schicksal drohte lange Zeit den Abfallbehältern. Hier erfolgte jedoch bis heute keine Kapitulation. Im Gegenteil: Neue Modelle wurden eingeführt, der vom Tischlein unfreiwillig freigegebene Platz erlaubte größere Behältnisse, und trotz der nicht sehr hygienischen Zustände müssen die Abfallbehälter häufig die entfallene Ablagefunktion mit übernehmen. Da die rechtzeitige Entleerung der Müllbehältnisse - eventuell gar verbunden mit einer täglichen Innenreinigung der Fahrzeuge - offensichtlich nicht zur Marketingstrategie besagten großen Schienenverkehrsanbieters gehört, stolpert man in letzter Zeit häufiger über die Tatsache, daß es Fahrgäste gibt, die lieber den Fußboden oder die Sitze für ihren Abfall hernehmen, anstatt nach kleinen grauen Kästen mit noch ausreichender Aufnahmekapazität zu suchen.

Nachdem die Abteile größer, die Sitze grün geworden waren, droht nun das nächste Utensil in den Sog der Vergeßlichkeit zu geraten. Irgend jemand montiert Armlehnen ab!

Der Verfasser hat nicht die geringste Vorstellung, in welcher Funktion sich eine S-Bahn-Armlehne in einen gewöhnlichen Haushalt integrieren läßt. Zumindest nicht in der verschwundenen Stückzahl. Außer in einigen Zügen der Flughafen-S-Bahn und bei einigen Sitzgruppen in der Nähe der Fahrerkabine sind heute kaum noch Armlehnen anzutreffen. Deutet das auf eine neue perfide Form des Vandalismus hin? Alle Fahrgäste, die diese Vermutung teilen, seien dazu aufgerufen, Fälle des Abmontierens von Armlehnen, deren sie gewahr werden, unverzüglich an den Münchener Verkehrsverbund, die DB AG oder die Bayerische Eisenbahngesellschaft zu melden.

Wer allerdings auf den Gedanken kommt, daß das Abmontieren der Armlehnen zum Marketing der DB gehört, sollte sich ebenso beschweren. Nicht für jeden Fahrgast stellen Armlehnen in Nahverkehrsfahrzeugen einen verzichtbaren Luxus dar, der einem allenfalls hilft, beim Zeitungslesen in der S-Bahn eine weniger ermüdende Sitzposition zu finden. Insbesondere für ältere Menschen sind Armlehnen eine wichtige Hilfe beim Hinsetzen und Aufstehen. Im Gegensatz zu Bus und Straßenbahn, wo meist eine Reihenbestuhlung vorherrscht, entfällt in einem S-Bahn-Fahrzeug die Möglichkeit sich am Vordersitz oder einer Haltestange festzuhalten.

Daß die Armlehnen, die damit auch einen Teil zusätzliche Sicherheit beim Reisen verschafften, trotzdem beim Neudesign der Inneneinrichtung weggelassen wurde, zeugt von einer Ignoranz gegenüber den Kunden, die einem Unternehmen heutzutage fremd sein müßte. Die Gründe: Die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn AG kennen Ihre Kunden nicht, sind nicht fähig eine vernünftige Kommunikation mit Ihren Kunden aufzubauen und verstehen unter Kundenfreundlichkeit meist nur irgendwelche Marketing-Gags. Auf diesen Gebieten haben Schalterdienst und Zugbetreuer in den letzten Jahren offensichtlich größere Fortschritte gemacht als die Führungsebenen im technischen Bereich.



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