Dieser Text basiert auf einem Artikel
für die PRO BAHN Post September 2010.
Bearbeitungsstand: 22.8.2010

 
 

 
Kann man noch von S-Bahnen auf Regionalzüge umsteigen?
Der zerstörte Bayerntakt

Bis Anfang 2010 bewarb die Bayerische Eisenbahngesellschaft (BEG) den Schienennahverkehr in Bayern mit dem bekannten Begriff "Bayerntakt". Der Bayerntakt ist aber mehr als ein Schlagwort. Er ist ein System von Fahrplantakten und Verknüpfungen mit dem seit 1996 das Bahnfahren in Bayern verbessert wurde.

Die Marke "Bayerntakt" wurde von der BEG ersetzt durch das allgemeinere "Bahnland Bayern". Was bedeutet dies für die Ziele des bayerischen Schienennahverkehrs?

Wesentlicher Bestandteil des Bayerntakts ist, durch gute Anschlüsse Umsteigeaufenthalte nicht unnötig zu verlängern. Hier hat der Taktfahrplan Fortschritte gebracht; viele Wünsche blieben aber bis heute unerfüllt.

Im Raum München wurde 1996 der Fahrplan der S-Bahnen so umgestellt, dass an Stationen wie Tutzing, Freising oder Grafing auch in Schwachlastzeiten Anschlüsse zwischen S-Bahnen und Regionalzügen hergestellt werden. Da ein 40-Minuten-Takt der S-Bahn nicht zum Stundentakt der Regionalzüge passt, wurde der Fahrplan abends und am Wochenende meist auf vier Züge in zwei Stunden umgestellt. Obwohl die Fahrgäste damit einen Wechsel von 20-Minuten-Abständen und 40-Minuten-Lücken hinnehmen mussten, war dies zunächst eine Verbesserung.

Neben der oben gestellten Frage, ob ein integrierter Taktverkehr noch Ziel bayerischer Verkehrspolitik ist, fällt seit geraumer Zeit auf, dass Anschlusssicherung gerade im Randbereich des Münchner S-Bahn-Netzes unmodern geworden zu sein scheint.

Voraussetzung, um von der S-Bahn auf einen weiterfahrenden Zug umsteigen zu können, ist, dass man vor Abfahrt des Regionalzuges die Umsteigestation erreicht. Dies gelingt nicht, wenn beispielsweise ein aus München kommender Regionalzug in Neufahrn die S-Bahn überholt, die eigentlich in Freising Anschluss zu diesem Regionalzug hat.

Gerade bei der S1, mit ihren vielen Pendlern auch zu Arbeitsplätzen zwischen Neufahrn und Oberschleißheim, ist ein zuverlässiger Umsteigeanschluss in Freising wichtig. Andererseits ist die S1 auch notorisch unpünktlich. Der Freistaat Bayern hat zuletzt mit dem Flughafengutachten die Hoffnungen, dass sich hier in absehbarer Zeit etwas bessern könnte, wieder einmal zerstört.

Auf einer Mischverkehrsstrecke muss die Überholung einer verspäteten S-Bahn möglich sein. Dies wurde auch immer schon so gehandhabt – meist ab Verspätungen von 10 Minuten. Spätestens seit 2009 fällt aber auf, dass auch bei deutlich geringeren Verspätungen die S1 in Neufahrn überholt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die DB den Abschnitt Freising – Neufahrn bei größeren Verspätungen gerne ersatzlos entfallen lässt.

Was bedeutet es, wenn eine fünf Minuten verspätete S-Bahn stadtauswärts in Neufahrn überholt wird?

  1. Der Regionalzug hat einen geringen Zeitgewinn. Statt zwei bis drei Minuten verspätet Freising zu erreichen, wird er absolut pünktlich sein.
  2. Die S-Bahn erreicht Freising statt mit fünf Minuten Verspätung nun etwa 10 Minuten zu spät. Dieselbe Verspätung hat der zweite Zugteil der S1 am Münchner Flughafen.
  3. Pendler, die am Abend von Arbeitsplätzen zwischen Oberschleißheim und Neufahrn – dort sitzen Firmen wie Linde, Microsoft oder Müller Brot – nach Hause Richtung Landshut oder gar weiter wollen, erhalten einen Zwangsaufenthalt in Freising.
  4. Während die S1 eine fünfminütige Verspätung in der Wendezeit ausgleichen kann, wird sie nun mit Verspätung wieder Richtung München starten. Dies behindert dann wieder stadteinwärts fahrende Regionalzüge, und ab Laim hat es Auswirkungen auf die anderen S-Bahn-Linien.

Die oben geschilderten Pendler, die zwischen Regionalzug und S-Bahn umsteigen könnten, sind inzwischen wohl mehrheitlich auf das Auto umgestiegen – die gut ausgebaute A92 ist eine lockende Alternative.

Am Wochenende ist die Verspätung der S1 etwas unwahrscheinlicher. Trotzdem erlebt man in Freising durchaus auch frustrierte Sonntagsausflügler. Erschwerend kommt hinzu, dass die S1 nach Freising sonntags nicht im 20-Minuten-Takt fährt. So hat man nicht immer die Option, aus reiner Vorsicht 20 Minuten früher in Freising zu sein.

Es stellt sich die Frage, ob ein Regionalzug nicht in der Lage wäre, außerhalb des S-Bahn-Netzes eine zwei- bis dreiminütige Verspätung wieder aufzuholen. Und ob der Verzicht auf eine Überholung wie oben geschildert nicht in der Summe geringere Auswirkungen hätte – auf die Fahrgäste und auf die Gesamtpünktlichkeit im Bahnsystem.

Warum kommt es trotzdem so oft zu solchen Überholungen? Ein Grund scheint zu sein, dass die DB überwiegend recht einfache Entscheidungskriterien nutzt. Langlaufende Züge werden gegenüber solchen mit kürzeren Fahrstrecken bevorzugt; höherwertige Züge wie der Regionalexpress gegenüber minderwertigen wie der S-Bahn; schnellere Züge gegenüber langsamen.

Ist es aber in einem dichten und komplexen Fahrplangefüge auf einer hochbelasteten Strecke zeitgemäß, auf solche simplen Entscheidungsgrundlagen zu setzen? Im heutigen, insbesondere in Ballungsräumen hochtechnisierten Bahnbetrieb erwartet man eigentlich, dass solche Entscheidungen auf einer besseren Basis getroffen werden. Man erwartet ein softwaregestütztes Werkzeug, das dem jeweiligen Fahrdienstleiter die Konsequenzen seiner Entscheidung auf die künftige Betriebslage und auf die Bahnkunden deutlich macht, das ihm Alternativen aufzeigt. Dies gilt umso mehr, da aufgrund von Zentralisierung und Rationalisierung in den letzten Jahren die Zahl der Entscheidungen pro Fahrdienstleiter deutlich zugenommen haben muss.

Eine weitere Frage ist, ob hier noch gemäß des Bestellerauftrags gehandelt wird. Wofür zahlt der Freistaat? Will er, dass Anschlüsse wenn möglich eingehalten werden, oder stellt er dies ins Belieben von DB Netz? Ist die DB nicht in der Lage, den Auftrag des Bestellers umzusetzen oder mangelt es lediglich an Kontrolle durch die BEG? Oder ist – wie zu Beginn angedeutet – die Idee des Bayerntakts so aufgeweicht worden, dass Anschlusssicherung nicht mehr wichtig ist?

Auffallend ist, dass im Vergleich zum Regionalexpress der DB die Züge von Alex mit noch größerer Wahrscheinlichkeit knapp verspätete S-Bahnen überholen dürfen. Die Alex-Betreiber sind nicht an die DB-Konzerndisziplin gebunden, und können daher bei Verspätungen offener die Netzdefizite als Grund benennen. Schon die Vermutung, dies beeinflusse das Kalkül von DB Netz, zeigt, dass saubere und transparente Lösungen nur bei einer Ausgliederung der Infrastruktur aus dem DB-Konzern möglich sind.

Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Die Zerstörung von Anschlüssen zerstört den Bayerntakt. Die Häufigkeit und Leichtfertigkeit, mit der das im geschilderten Fall passiert, spricht für ein systematisches Problem. Nachfragen in dieser Sache an die betroffenen Unternehmen und den Besteller führten bisher nur zu Antworten mit wenig Aussagekraft und zu keiner nachhaltigen Änderung der Zustände. Ein Hinweis an Alex/Länderbahn, dass mit den wegbleibenden Umsteigern von der S-Bahn Kundenpotential verlorengeht, blieb unbeantwortet.

Edmund Lauterbach

 
 


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