Authentischer Hoffmann ohne Schnörkel in Aachen

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Besuchte Vorstellung 25. Mai 2008 (Premiere)




Das Theater Aachen © Martin Möller/Wikipedia

Regie


Corinna von Rad

Dirigent


Daniel Jakobi

Bühnenbild


Ralf Käselau

Kostüme


Sabine Blickenstorfer

Version


Kaye-Keck




Hoffmann


Yikun Chung

Muse


Mélanie Forgeron

Olympia


Michaela Maria Mayer

Antonia


Irina Popova

Giulietta


Johanna Stojkovic

Widersacher


Woong-jo Choi







Fazit Aachen: Ein echter, menschlicher »Hoffmann« ohne die so häufig zu beklagenden Schnörkel, ohne werksfremde Gags, mit denen sich der Regisseur produzieren will und ohne überladenes Bühnenbild. Ein »Hoffmann«, der unter die Haut ging mit lebensechten Charakteren, mit den man sich identifizieren konnte und auseinandersetzen musste. Im Gegensatz zu Luzern, wo das Bühnenbild von Anfang bis Ende aus einfacher Bestuhlung mit Resopaltischen bestand, war das Aachener Bühnenbild noch nüchterner, aber funktional. Dafür war die Aachener Beleuchtung kreativ und glich den Mangel an Utensilien mit abwechselnden Lichtspielen aus. Diese Inszenierung lebte von der intensiven Darstellungskunst der Akteure. Im Antonia-Akt gab es nicht einmal die Andeutung einer Geige, dafür aber die wunderschöne Geigenarie!




Besonders gefiel mir der leidende, fast elende Hoffmann. Was ich generell unpassend finde, ist ein jovialer, charmanter Hoffmann als Grandseigneur oder gar Bonvivant, der sich mit schönem Belcanto durch die Oper mogelt. Ein Regisseur, der einen solchen »Hoffmann« auf die Bühne stellt, hat weder das Leben des Dichters E.T.A. Hoffmanns noch die Botschaft des Librettos begriffen. Ein Negativbeispiel war hier die Inszenierung an der Staatsoper Wien, die allerdings schon älteren Datums war, aber sie wird immer wieder zu Festspielen aus der Versenkung geholt, wo sie eigentlich hin gehört.

Die Aachener Regisseurin (schon wieder eine Frau mit einem gelungenen »Hoffmann«) hat sich gute Gedanken über diese Opernfigur gemacht, die ja auf einem realen Menschen gegründet ist. Der Aachener »Hoffmann« durchlitt sein Leben wie E.T.A. und wurde präsentiert als der vom Schicksal Geschlagene, aber auch durch das Leben Irrende. Jemand, der alle seine Frauen verliert, kann nicht als strahlender Held oder als Playboy banalisiert werden. Einen ganz neuen Weg beschritt Corinna von Rad mit ihrer Interpretation der Olympia. Das war innovativ. Ich hoffe, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen Corinna von Rads den Aachener »Hoffmann« ansehen und sich von dieser Olympia inspirieren lassen. Alle Achtung vor dem Regieteam um Corinna von Rad, das ein durchdachtes, überzeugendes und innovatives Regiekonzept vorgelegt hatte und auf jede aufgesetzte Effekthascherei verzichtete. Dieser »Hoffmann« hat eine Wiederaufnahme verdient.

Hervorheben möchte ich auch die ausgezeichnete Leistung des Orchesters und des Chores. Ein wahrer Ohrenschmaus, der mir nach der schlampigen musikalischen Darbietung der Kölner Derniere besonders gut tat.

Von Dresden kommend fuhr ich vom östlichen Ende Deutschlands an sein westliches - vorbei am Cour d'Eisenach, der von seinem Berg herübergrüßte. Die vorbestellte Karte wartete auf mich. Freundlicherweise hatte man mir zugestanden, sie bis kurz vor Beginn der Vorstellung um 18 Uhr zu reservieren, sollte ich in einen Stau geraten.

Das Aachener Theater ist ein stilvoller Neuausbau von 1950, nachdem ein weiterer kriegswichtiger Musentempel von den alliierten Bomberflotten attackiert worden war. Nur die Außenmauern waren stehen geblieben.

Das Aachener Theater empfing seine Premierengäste mit einem zur Premiere ausgelegten roten Teppich auf den Eingangsstufen.

Es hat an die 800 Plätze, die so gut angeordnet sind, dass man, von wenigen Seitenplätzen abgesehen, einen freien Blick auf die Bühne hat. Ich saß in der fünften Reihe im zweiten Rang und sah ungehindert auf die Bühne und in den Orchestergraben. Die Vorstellung war praktisch ausverkauft. Nur ein paar seitliche, sogenannte Partiturplätze, waren unbesetzt.

Das Orchester begann gut, der blaue Samtvorhang glitt auf. Man blickte auf eine weitgehend leere Bühne. Vor einem halbrunden Podest lagen zwei Gestalten auf dem Boden: Hoffmann und seine Muse. Die Muse im dunklen Glitzertop erhob sich zuerst und rüttelte dann den schlafenden Hoffmann wach. Eine junge, kleinwüchsige blonde Gestalt machte einen Gang über die Bühne, ohne ins Publikum zu blicken, als müsste sie nach dem Rechten sehen. Langsam füllte sich die Bühne mit Hoffmanns Kumpanen. Mir fiel gleich die gute Chorregie auf. Jeder Sänger stellte sich als eigene Persönlichkeit mit eigenem Charakter dar.

Lindorf trat in Schwarz auf wie Hoffmann, dieser jedoch mit Mantel. Während der ganzen Oper wechselte der Sänger der Widersacher nur die Rollen, nicht aber das einfache schwarze Kostüm. Beide Sänger waren Koreaner, und der Hoffmann legte sofort mit gewaltiger Dynamik los. Von Premieren-Nervosität war nichts zu spüren. Kein schlechter Auftakt in Aachen. Den Klein-Zach sang er nicht in fröhlichem Belcanto, was vom Libretto nicht intendiert sein kann, sondern eher dramatisch-gequält. (Perfekt darin war Alexandru Bádea in Regensburg, der den Klein-Zack dem Text gemäß voller Ekel und Abscheu beschrieben hatte.) Dann erst ging Yikun Chung in schwärmerisches Belcanto über, als er von Stella zu singen begann.

Zu Beginn des Olympia-Aktes wurde die Sängerin aus einer Klappe in der Bühne heraufgeholt und langsam zum Leben erweckt. Die Aachener Olympia war kein attraktives Püppchen, wie sonst gerne präsentiert, sondern ein zuerst lebloses, wie eine Mumie eingewickeltes Wesen mit einer Augenbinde in einem fetzenartigen Nachthemd, dem dann von Coppélius die Augenbinde abgenommen wurde, woraufhin sie heftigst mit den Lidern zu klimpern begann.

Unsicher und tapsig, aber nicht automatenhaft, setzte sie sich in Bewegung. Sie hing an zwei von oben herabhängenden Kabeln. Eher ein Bild des Jammers als das einer Verführerin. Hilflos, von Spalanzani und Coppélius präpariert, stand sie da. Entweder bekam ich nicht mit, dass Hoffmann keine Zauberbrille von Coppélius erhielt, oder es war Absicht. Jedenfalls schien er nicht zu bemerken, dass ihm keine der üblichen strahlenden Olympia-Puppen vorgeführt wurde.

Großer Applaus für ihre gelungene Arie. Bisher hat alles gut geklappt bei der Premiere, und so sollte es weiter gehen. Dem Männerchor hatten sich inzwischen auch die Frauen in dezenter Kleidung angeschlossen und erfreuten mit hervorragendem Gesang. Dann passierte es: Coppélius rächte sich für den geplatzten Wechsel, indem er Olympia an den beiden Kabeln, die an ihren Schulterblättern befestigt sind, hochziehen ließ.

Hilflos baumelte sie über den Festgästen, die ihre Füße erhaschen wollten, wie das auch der betrogene Hoffmann versuchte. Funken sprühten auf, als die nun überflüssig Gewordene mit einem Stromschlag getötet wurde. Daraufhin hing sie leblos, wie sie auch auf die Bühne gekommen war, über der Bühne und wurde über die Klappe im Boden entsorgt.

Ich war überrascht und fasziniert von dieser mir völlig neuen Interpretation der Olympia. Meistens wird sie als püppchenhafter Automat, üblicherweise attraktiv, manchmal strahlend schön und sexy, präsentiert. Die Aachener Olympia dagegen war eher ein hilfloses Opfer des Gauners Spalanzani, ein missbrauchtes armes Hascherl. (Für Nichtbayern: eine hilflose weibliche Person.) Eine sehr interessante, neue Variante dieser Figur. Allerdings bietet dieser Typ Olympia einer Sängerin null Gelegenheit, sich strahlend und ästhetisch zu präsentieren.

Respekt vor diesem Mut zur Hässlichkeit und alle Achtung vor diesem Konzept der Regie, die damit einen völlig neuen Weg beschritten hat. Nach dem gelungenen Vorspiel ein noch gelungenerer Olympia-Akt. Der Aachener »Hoffmann« wurde mir immer sympathischer.

Übergang zum Antonia-Akt. Das Bühnenbild war wiederum nur mit dem Allernötigsten bestückt. Wie in Regensburg stand nur ein Flügel in der Bühnenmitte. Sonst alles schmucklos. Nicht einmal eine Geige deutete auf Rat Crespels Gewerbe hin. Franz versuchte sich bei seinem Auftritt sogar als Stepptänzer.

Antonia stellte sich in einem langen blauen Kleid vor. Mit hochdramatischem Tremolo in der vollen Stimme sang sie von der Turteltaube. Ihr Vater dagegen wirkte ziemlich jugendlich. Doktor Mirakel sah in seinem üblichen Kostüm wenig mephistophelisch aus. Auch wurde der Konflikt zwischen Rat Krespel und Doktor Mirakel nicht ausreichend herausgespielt. Den Mirakel hätte ich mir etwas hypnotischer gewünscht. Er hatte nicht die üblichen Utensilien eines Arztes bei sich, außer einem Paar aufgeblasener Gummihandschuhe.

Innovativ wurde der Antonia-Akt, als die Mutter beschworen wurde. Auf dem halbrunden, erhöhten Podest im Hintergrund der Bühne erschien Antonias Mutter (Annika van Dyk), wie ihre Tochter blau gewandet. An einem Miniaturflügel wurde Klein-Antonia, ebenfalls in blauem Chiffon-Kleid, von der Mutter zur Musikerin ausgebildet. Ein schöner, werkimmanter Einfall der Regie: drei Frauengestalten, identisch gekleidet, Antonia, Antonias Mutter und Klein-Antonia auf der Bühne. Eine Zeitmaschine, mit einfachsten, aber wirkungsvollen Mitteln realisiert.

Meine einzige Kritik an diesem Akt war die Teilung mittendrin. Plötzlich, als der Akt noch gar nicht zu Ende sein konnte, ging der Vorhang zu und das Licht an. Die letzten Worte: »Je ne chanterai plus!« - »Ich werde nicht mehr singen«. Das Publikum applaudierte in dem Glauben, der Akt sei beendet und der Tod Antonias der Dramaturgie zum Opfer gefallen und nur virtuell angekündigt.



In der Pause kam ich ins wunderschöne Spiegelfoyer im ersten Stock. Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass sich im überwiegend älteren Publikum doch eine Reihe jüngerer Leute befanden. Die Wortfetzen, die ich aufschnappte, waren weitgehend voll des Lobes. Dank dem schönen Wetter konnte man auch draußen am Theaterplatz seinen Sekt schlürfen. Doch drinnen wurde etwas kredenzt, was ich nie in einer »Hoffmann«-Pause erahnt hätte: eine deftige Kartoffelsuppe, alternativ Chili con carne. Bei einer vielstündigen Wagner-Oper überlebensnotwendig, bei einem »Hoffmann« überraschend, aber durchaus willkommen.

Doch die eigentliche Überraschung kam nach der Pause: Antonia war wieder quietschlebendig auf der Bühne und zu meiner Verblüffung immer noch nicht tot. Ich gebe ja zu, dass ein mittellanges Vorspiel, ein Olympia- und dann ein Antonia-Akt nacheinander sich schon hinziehen können, und dann nach der Pause nur mehr der Giulietta-Akt und das eher kurze Nachspiel nicht mehr viel auf die Zeitwaage bringen. Aber den Antonia-Akt mittendrin zu teilen finde ich ebenso gewöhnungsbedürftig, wie die Muse von einem Mann singen zu lassen, wie bei Harry Kupfer 1993 an der Komischen Oper und 2007 in Warschau praktiziert. Doch auch in Aachen ereilte Antonia schließlich ihr Schicksal. Antonia wurde auf eine Tragbahre gelegt und zu den Takten der Barkarole in einem Leichenzug hinausgebracht.

Auch dieser Akt war gelungen und bot dank der Darstellung der kleinen und großen Antonia (im wirklichen Leben Mutter und Tochter) neue Akzente. Was mich leicht störte, war das übertriebene Vibrato in der Stimme Antonias, wenn sie gerade keine Solo-Arie oder ein Duett mit Hoffmann sang, sondern nur ein Rezitativ. Da wirkte das Vibrato etwas deplatziert, weil zu dramatisch. Mir persönlich gefiel der Aachener Antonia-Akt auch deswegen, weil mal wieder die Geigenarie gesungen wurde. Mit wunderschön weicher Stimme brachte sie die Muse Melanie Forgerons rüber. Leider wird die Geigenarie sonst meistens gestrichen. In Regensburg (Mirna Ores) und Köln (Ann-Katrin Naidu) dagegen durfte ich sie hören.

Antonia lag also noch tot am Boden, als schon die Truppe des Giulietta-Aktes hereinbrach. Wiederum kaum ein Bühnenbild, keine aufwändigen Kostüme, keine Gondel. Doch der Mangel an Utensilien auf der Bühne wurde durch intensive Darstellungskunst mehr als ausgeglichen. Dapertutto war gekleidet wie in seinen anderen Rollen vorher. Giulietta dagegen in einem langen roten figurbetonenden Seidenkleid. Die Aachener Giulietta war eine feurige und dominierende Kurtisane und überzeugte mit voller und hochdramatischer Stimme.

Schön sangen die Muse und Giulietta das Gondellied. Leider störte die Piccoloflöte etwas mit ihren zwei Tönen. Viele Dirigenten Orchester lassen daher das Piccolo während der Barkarole weg, denn eine Piccoloflöte lässt sich kaum leise spielen, obwohl die Aachener Flötistin ihr Bestes gab. Man kann die beiden Töne eine Oktave tiefer mit der Querflöte spielen lassen. (Besonders in Zwickau und Köln hatte mich das laute Piccolo gestört.)

Der an sich chaotische Akt war in Aachen klar strukturiert, nur der Verlust von Hoffmanns Spiegelbild konnte mangels Utensilien auf der Bühne nicht so klar - daher nur verbal - dargestellt werden. Mit Hilfe einer kreativen Beleuchtung wurde dann der Hoffmann quasi nackt ohne Schatten vorgeführt und von der Gesellschaft verhöhnt.

Der Schlemihl wurde mit einem Messer erstochen, wie inzwischen weitgehend üblich. Fechtduelle gibt es kaum mehr. Schlemihl starb langsam in einer Blutlache. Hoffmann wollte sich dann auf die betrügerische Giulietta stürzen und sie erstechen, doch die drehte sich blitzschnell aus der Gefahr und schob ihren Pitichinaccio in Hoffmanns Messer. Hoffmann wurde somit zum Doppelmörder. Die Wachen erschienen in venzianischen Karnevalsmasken, um ihn zu verhaften. Der Sänger des Hoffmann leistete Großartiges. Mit vollem Einsatz sang er von Anfang bis Ende der Oper durch.

Beim Nachspiel erlebte ich erneut eine Überraschung. Noch vor dem apotheotischen Oratorium sang ein Männerchor pianissimo und a cappella eine kurze Weise aus der aus finanziellen Gründen selten zu hörenden Keck-Kaye-Version. Das war ergreifend. An diese Stelle möchte ich auch einmal die gefühlvolle und poetische Sprache des Librettisten Jules Barbier lobend erwähnen, die dessen Eigenleistung ist.

Nach der Oper war das Publikum in das Spiegel-Foyer zur Premierenfeier eingeladen, doch nur wenige Zuschauer kamen. Deswegen hatte ich umso mehr Gelegenheit, dem Regieteam und den Darstellern meine Anerkennung auszusprechen. Der Intendant lobte in einer Ansprache seine Mitarbeiter, und zuletzt die „Spielmacherin", die in jedem Akt auf einem Kontrollgang nach dem Rechten sah. Natürlich wollte ich wissen, was diese stumme Rolle zu bedeuten habe. Doch weder Regisseurin noch Dramaturg gaben mir eine Auskunft. Ich sollte mir doch selbst Gedanken machen. Hmm. Fellini fiel mir ein, der immer mal wieder ungewöhnliche Gestalten in seinen Filmen auftreten ließ, oder der Geist E.T.A. Hoffmanns oder Jacques Offenbachs, der über die Bühne spukte, um nachzusehen, was die Nachgeborenen aus den Werken gemacht hatten. „Das ist schon mal ganz gut", war der einzige Kommentar, aber mehr ließen sich die beiden nicht entlocken.

Inzwischen weiß ich, dass sich während der Entwicklung einer Inszenierung immer allerlei Bizarrerien ergeben, die man als Zuschauer gewöhnlich nicht nachempfinden kann. Naja, es gibt Schlimmeres.

Ach ja, die Kartoffelsuppe gab es immer noch, und sie schmeckte mir. Wo bekommt man schon eine gute Kartoffelsuppe nach einer ausgezeichneten Oper?

Als ich zu meinem Zimmer im nahegelegenen Düren kam, hörte ich am Stadtrand in einem Wäldchen eine Nachtigall betörend singen. Ich ging in das Gebüsch und lauschte noch eine Weile dem schönsten Nachtigallengesang, den ich je gehört hatte. Ein krönender Abschluss eines gelungenen Opernabends.



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Hoffmann und Muse




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Hoffmann und Muse








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Die Veröffentlichung der hier verwendeten Fotografien erfolgt mit den ausdrücklichen Genehmigungen des Theaters Aachen & des Fotografen Wil van Iersel (www.wilvaniersel.nl), bei welchen sämtliche Rechte für die Nutzung der Bilder liegen. Vielen Dank für die freundliche Kooperation!