Dynamischer »Hoffmann« in Gießen

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Besuchte Vorstellung: 20. März 2010 (Premiere)





Foto: Rolf K. Wegst

Inschrift obe n der Theaterfassade::

Aus der Kräfte schön vereintem Streben ergibt sich wirkend erst das wahre Leben

Regie


Uwe Schwarz

Dirigent


Carlos Spierer

Bühnenbild


Lukas Noll

Kostüme


Dorit Lievenbrück

Chor


Jan Hoffmann

Version


Kaye-Keck

Sprache


Deutsch




Hoffmann


Wolfgang Schwaninger

Muse


Christina Khosrowi

Olympia


Carla Maffioletti

Antonia


Agnieszka Hauzer

Giulietta


Henrietta Hugenholtz

Widersacher


Johannes Schwärski









Hoffmann mit Luftballon


Fazit Gießen: Ein lebhaft inszenierter Hoffmann mit zahlreichen eigenständigen und oft überraschenden Ideen, von denen ich nur einige wenige zu den Bizarrerien rechnete. Einige von denen konnte ich nicht mit der Botschaft dieser Oper in Verbindung bringen, z.B. die Rolle des Kühlschranks.


Während der ganzen Vorstellung herrschte eine selten zu erlebende Präsenz. Ich fühlte mich als Zuschauer fast immer direkt ins Geschehen eingebunden. (Oft hat man das Gefühl, dass man das Geschehen wie durch eine Glasscheibe verfolgen muss.)


Auf der Bühne tobte das Leben: Kein statisches Rampensingen in Gießen. Der musikalische Höhepunkt des Abends war zweifellos die rund um das Parkett gesungene Apotheose.


Das Niveau des Gesangs lag auf hohem Niveau, das Orchester spielte schon bei der Premiere lebhaft und fehlerfrei.


Einen neuen Blick auf die Oper bekam man bei der Gießener Inszenierung nicht geboten, aber sie war vielfältig und kreativ ausgeschmückt. Endlich mal wieder eine herausragende Neuinszenierung, und in erreichbarer Nähe.


Das Ensemble spielte und sang mit großem Engagement. Das Publikum war fantastisch und ging hervorragend mit, da der Funke sofort übergesprungen war.




Die kleine Universitätsstadt Gießen wurde im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört. Auch das Theater wurde schwer beschädigt, aber geschmackvoll wieder aufgebaut. Einige Stilelemente erinnern noch an den Bau aus der Gründerzeit. 500 Zuschauer finden im Parkett und auf den zwei Rängen Platz.


Das Theater strahlt eine Atmosphäre aus, in der ich mich gleich wohl fühlte. Zwei Kontrabässe und Celli zählte ich im Orchester. Es gab nur einzelne freie Plätze, die üblichen No-shows.


Das Orchester erfreute mich gleich mit schön akzentuierten und maestoso gespielten Auftakten. Die Akustik im Haus war sehr gut. In Gießen wurde deutsch gesungen.


Hoffmann und Muse


Der Vorhang ging auf, und Hoffmann samt Muse lag schläfrig auf einem breiten Bett. Auf die Wand hinter ihnen wurde ominös in großen leuchtenden Buchstaben die Worte projiziert: MACHT VERBRANNTE DEIN HERZ: Man befand sich in einem großen kahlen Raum, von dessen Wänden die Tapeten abblätterten. Es könnte der etwas heruntergekommene Festsaal eines Gasthauses gewesen sein.


Links neben dem Bett stand ein großer Kühlschrank. Über dem Bett schwebte ein Flügel kopfüber. Die Muse stellte fest, dass die Weinflasche neben dem Bett leer war. Griesgrämig ging sie zum Kühlschrank und holte sich einen Fruchtsaft. Damit war schon gleich mal das Genussverhalten der beiden definiert.


Für Hoffmann kochte sie einen Kaffee. Das war ja mal eine fürsorgliche Muse.


Dem inzwischen aufgewachten Dichter stellte sie eine Reiseschreibmaschine hin.


Während sie sang, war sie dauernd mit irgendwas beschäftigt, z.B. mit Bleistiftspitzen. Die Einleitung wurde ziemlich ausführlich gestaltet.


Ein aalglatter Lindorf trat auf und sang mit kräftiger und sonorer Stimme.



Ein witziger Bote brachte Stellas Brief, der auf rosa Papier geschrieben war. Gut wurde die Ersteigerung des Briefes gespielt.


Ein Transvestit in blauem Kittel brachte zwei Kästen Bier und räumte sie in den Kühlschrank. Wenn er nicht gerade mit Getränken beschäftigt war, fotografierte er das Geschehen auf der Bühne mit einer Polaroidkamera und steckte den Abgebildeten die noch feuchten Bilder zu. Hoffmanns Freunde bekamen Flaschen zugeworfen. Dieser Charakter sollte der Gastwirt Lutter sein. Darauf wäre ich selbst nie gekommen. Bizarr, und bitte nicht nochmal.


Spritzig und dynamisch führte sich der Chor ein und bekam auch gleich Szenenapplaus. Das kommt selten vor. Obwohl sie in dieser Oper – außer im Antonia-Akt – viel zu singen haben, werden die Choristen eher selten gewürdigt. Das will ich hier tun.



Der inzwischen aufgewachte Hoffmann stellte sich als kantiger und clownesker Charakter vor, der mit kräftiger Stimme sang



Er wurde gleich als Dichter eingeführt. Er schrieb schon mal an seinen Geschichten, die er im Begriff war zu erleben, So formte er mit Daumen und Zeigefinger eine Brille um seine Augen, als er gerade sein Erlebnis mit Olympia entwarf.


Rechts vorne am Bühnenrand befand sich ein geheimnisvoller Ort. Ein Vorhang hing von einem halbrunden Gestänge herab. Dahinter befand sich ein funktionierender Wasserhahn, darunter ein Pissoir. Hinter diesem Vorhang verschwanden während der ganzen Vorstellung immer mal Personen und kamen einige Zeit später ganz anders aussehend wieder heraus.


War die Muse am Anfang im Rock zu sehen, kam Niklaus nun im grauen Anzug aus dieser Mini-Umkleide mit Pinkelbecken heraus. Ein Schnurrbart zierte die Oberlippe, damit auch jeder ihre neue Rolle begriff.


Was mir gefiel, war das Ausagieren der angesungen Beziehungen zwischen Hoffmanns Freunden und verschiedenen auf der Bühne nicht präsenten Damen namens Leonora und Fausta, obwohl ich meine, dass diese Paarungen kein wesentlicher Teil des Prologs sein müssen.



Lebhaft und mit viel Mimik brachte Hoffmann den Klein-Zach und bekam seinen verdienten Applaus.


Olympia und Hoffmann


Dann kam der Olympia-Akt. Wie es schien, wurden wir in die fünfziger Jahre versetzt. Die Damen des Chores waren in weite Petticoats gekleidet. Eine große Olympia wurde projiziert. Ihr Aussehen erinnerte mich an Cornelia Froboess. Ihr Gesicht fand sich auf einem großen Luftballon, der an einer Schnur hing. Bald sollte der wohl platzen.


Eine hohe Transportkiste, wie sie z.B. von Roadies einer Rockband benützt wird, wurde hereingebracht. Daraus erschien Olympia, auch im Petticoat. Um ihre Taille ein damals üblicher breiter Gürtel. Lächelnd und lebhaft tänzelte sie auf einem Laufsteg vor ihr herum, Kusshände verteilend und gar nicht automatenhaft flirtete sie gleich heftig mit ihrer Zielperson.


Gesteuert wurde sie von einem altmodischen und heftig blinkenden Computer, auf dessen Bildschirm auch ihr Gesicht zu sehen war. Ihre Arie sang sie auf Französisch. Immer mal wieder zeigte sie viel Bein dabei, wackelte mit dem Po und den Schultern. Richtig sexy. Und dazu noch hervorragender Koloraturgesang.


Spalanzani, Olympia und Hoffmann


Wenn sie schwächelte, lief auch ihr Gesicht auf dem Bildschirm durch, und ihre Miene verzerrte sich. Auf ihre Melodie setzte sie ein paar gelungene ganz hohe Falsett-Töne drauf, wie ich sie noch nie gehört hatte. Es gab lang anhaltenden und heftigen Applaus, so dass ich schon an ein da capo dachte. Der Applaus hätte das gerechtfertigt.


Die Schau war noch nicht vorbei. Als Hoffmann sie verliebt ansang, begann sie zu strippen und stand schließlich in einem hautfarbenen Korsett aus den fünfziger Jahren und in roten Schuhen da. Da dachte man doch an den englischen Film The Red Shoes aus der gleichen Zeit. Dann zerstörte der erboste Coppelius den Computer.


Olympia im Korsett kam nun mit Brautschleier wieder herein und tanzte mit dem begeisterten Hoffmann zum Walzer gar nicht stilgemäß einen Jive. Die Olympia von Gießen war die schauspielerisch beste seit langem, und der Gesang dazu ganz hervorragend.


Coppelius sperrte die heftig zappelnde Olympia wieder in den Kasten ein. Es knallte und rauchte, und der Automat, nun eine Puppe, lag leblos in Hoffmanns Armen.


Coppelius stach noch den großen Ballon, auf dem sich ihr Bild befand, kaputt. Spalanzani versuchte noch, mit einem elektrischen Messgerät seine Olympia zu reparieren, aber es wurde nichts.


Ich war sehr angetan von diesem Akt. Auf der Gießener Bühne war immer etwas los. Niemand stand unmotiviert herum, und selbst die gerade Singenden agierten lebhaft zu ihren Melodien. Die Akustik im Theater war gut, das Orchester spielte spritzig und präzise, und gesungen wurde ausgezeichnet in allen Rollen. Hervorragend auch der Chor. Keine Arhythmien im Olympia-Akt, wie man sie auch an ersten Adressen immer mal wieder hört.


Ohne Pause ging es weiter zum Antonia-Akt. Die Umbaupause wurde mit einer Wiederholung des Walzers der Olympia überbrückt.


Antonia und Mirakel


Schluss mit Lustig. Ein Flügel stand nun auf der Bühne, schwarze Vorhänge säumten die Bühne, und eine ernst wirkende Antonia im langen Empire-Kleid zündete Kerzen an, als sie mit ihrem Klagelied von der entflogenen Taube begann. Sie sang mit kultivierter und hochdramatischer Stimme. Der überdimensionierte Kühlschrank stand noch auf der Bühne.


Antonia und Hoffmann wirkten etwas distanziert. Sie umarmten sich nicht bei ihrem Wiedersehen. Später auf der Premierenfeier erfuhr ich, dass Hoffmann Antonia nicht wirklich liebte, sondern nur an ihrem Gesang interessiert war. Ein Novum.


Krespel war geschminkt wie eine Gestalt aus einem Stummfilm und sang mit weit aufgerissenen Augen.


Mit gewaltiger Stimme stellte sich ein komödiantischer Franz vor (Alexander Herzog) und erwies sich auch als guter Tänzer. Er mimte zur Gitarre und meinte, es fehle ihm am Techno. Das ist origineller als Methode.


Ergreifend sang Niklaus die Geigenarie. Leider hatte man eine Strophe davon gestrichen. Aber immerhin kam ein großer Teil von ihr hervorragend und mit viel Seele und schöner Stimme gesungen zu Gehör.


Bei den Duetten mit Hoffmann glänzte Antonia mit ihrer dramatischen Stimme und ebensolchem Augenspiel.


Der riesige Kühlschrank stand immer noch auf der Bühne, und aus ihm heraus sang die Mutter, aber alles andere als tiefgekühlt, nachdem Mirakel die Tür geöffnet hatte. Mirakel stellte nun zehn Leuchter mit brennenden Kerzen um den Flügel.



Zum Gesang der Mutter bewegte sich im Hintergrund eine kopflose Figur in einem roten Bühnenkostüm.


Das auf den Hintergrund projizierte Gesicht der Mutter sah der Antonia sehr ähnlich. So sollte wohl das Über-Ich der Antonia dargestellt werden.


Ein gewaltiges Terzett Antonia - Mutter - Mirakel folgte.


Es war schon eine bizarre Situation: Antonia stand singend auf dem Flügel, die Mutter sang aus dem Kühlschrank heraus, dazu Vater Krespel mit einer Nelke im Knopfloch wie auch Mirakel.


Dann blies Krespel die Kerzen aus, die Mirakel angezündet hatte. Doch vergebens. Antonias Sterben war nicht aufzuhalten.


Dann war nach fast zwei Stunden Pause. Mir sollte das recht sein. Auf der Bühne passierte so viel, dass keinen Augenblick Längen zu spüren waren, außer im etwas zu ausführlichen Vorspiel bei Lutter.




Pitichinaccio und Giulietta


Weiter ging es mit dem Giulietta-Akt. Das Bühnenbild bot einen Blick auf eine stilisierte venezianische Szene. Rechts ragte die Silhouette einer Gondel herein. Auf der Bühne stand der Chor in grotesken venezianischen Kostümen. Die Beleuchtung war ähnlich wie die in Breslau: Rot und Blau verliehen der Szene etwas Magisches. Dafür gab es auch Szenenapplaus des Publikums.


Hoffmann schien sich in diesem Ambiente ziemlich unwohl zu fühlen. Ziellos zickte er auf der Bühne herum.


Giulietta war ganz in Rot gewandet. Ihr Gesicht war gestylt wie das einer der Hollywood-Diven der 50er Jahre. Ich musste an Ava Gardner denken, eventuell auch an Jane Russell. Giulietta strahlte eine unverbindliche und leichtfertige Sinnlichkeit aus.


Zur Barkarole erklang wieder mal ein Piccolo, aber eher dezent.


Hoffmann wollte zuerst mit einem Regenschirm zum Duell mit Schlemihl antreten, doch Dapertutto half ihm mit seinem Zauberdegen aus. Es gab ein richtig gut inszeniertes Duell, wonach Hoffmann seinen erschlichenen Sieg tanzend bejubelte. Dapertutto hatte die Szene mit einem Scheinwerfer beleuchtet. Dapertutto legte den toten Schlemihl in einen bereitstehenden Sarg.


Bemerkenswert noch die Darstellung des Pittichinaccio: als Messdiener gekleidet rutschte er auf seinen Knien um Giulietta herum.


Giulietta lag inzwischen in Dessous da, um Hoffmann sein Spiegelbild abzuluchsen. Den Verlust desselben hatte man auf eigene Art dargestellt. Hoffmann stand vor seinem projizierten Spiegelbild, das aber mit Hilfe von Computertechnik immer verwischter wurde und schließlich verschwand. Dapertutto sah der ganzen Szene unbeteiligt rauchend zu.

Verzweifelt blickte Hoffmann in ein Wasser, das er in beide Hände gefasst hatte: Er hatte kein Spiegelbild mehr. Das war gut dargestellt.


Dann kamen die Kriminaler in typischer Gestapo- oder Stasi-Kleidung, um Hoffmann zu verhaften. Der sich verraten fühlende Hoffmann wollte in seiner Wut Pitichinaccio töten. Doch das gelang nicht. Dapertutto hatte ihn hinter dem mystischen Vorhang versteckt. Doch der rasende Hoffmann erschlug dann Pitichinaccio mit seiner Reiseschreibmaschine.


Giulietta und Hoffmann



















Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen beim Stadttheater Gießen und beim Fotografen Rolf K. Wegst. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Während der a capella-Chor erklang, sammelte der Dichter Hoffmann seine Papiere zusammen. Stella trat von hinten an ihn heran und hielt ihm die Augen zu. Er riet: Olympia? - Antonia? - Giulietta? und sang für sie den Klein-Zach zu Ende - voller Wut. Stella war irritiert. Lindorf zuckte mit den Schultern: da kann man eben nichts machen.


Dann folgte ein schöner Gesang der Stella, den man selten zu hören bekommt, da sie ja oft nur als stumme oder Sprechrolle inszeniert wird.


Dann stand Hoffmann ganz alleine auf der Bühne. Niklaus war wieder zur Frau geworden, und dann folgte die große Überraschung des Opernabends. Die Choristen waren durch die Türen in das Parkett getreten, verteilten Zettel mit Text und Noten der Apotheose, die auch von den Rängen herabregneten. Dann sang der Chor, der nun im Halbkreis um das Publikum im Parkett stand, mit berückend schönem Klang die Apotheose. Dieser eindringliche Gesang stellte den musikalischen Höhepunkt der Aufführung dar und erinnerte mich an den »Hoffmann« in Nordhausen, wo man das Sextett auf dem zweiten Rang gesungen hatte. Dieser Hörgenuss alleine schon macht einen Besuch des Gießener Hoffmann notwendig. Aber dazu muss man einen Platz im Parkett buchen.


Hoffmann und die Muse lagen wieder zusammen auf dem Bett, wie zu Beginn der Oper.


Spontaner Jubel erfüllte das Theater, als der letzte Ton der Schlussakkorde erklang.

Entsprechend war auch der Applaus und Jubel für die Solisten, besonders Hoffmann, die Muse und Olympia.

















Dann gab es eine schöne Premierenfeier, während der sich die Intendantin bei den Schöpfern dieser Inszenierung bedankte. Diese Feier dauerte sehr lange, es wurde getanzt, und irgendwann um drei Uhr morgens kam ich dann ins Bett.









Hoffmann und Olympia auf der Premierenfeier



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