Verspielter »Hoffmann« in Halberstadt

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Besuchte Vorstellung: 15. Oktober 2010 (Premiere)






© Nordharzer Städtebund-Theater

Regie und Ausstattung


Hinrich Horstkotte

Dirigent


Johannes Rieger

Chorleitung


Jan Rozehnal

Version


Oeser

Sprache


Deutsch




Hoffmann


Raymond Sepe

Muse


Regina Pätzer

Olympia, Antonia, Giulietta, Stella


Bettina Pierags

Widersacher


Juha Koskela






Das neue Theater im vormaligen Elysium


Fazit Halberstadt: Ein ansprechender »Hoffmann« in der kleinsten Stadt, in der ich bis dahin an einem Repertoire-Theater meine Lieblingsoper sehen konnte. Die Regie, das Bühnenbild und die Kostüme wurden von einer Hand gestaltet, und eine Sängerin interpretierte alle Sopranrollen. Das Orchester spielte makellos und wurde nuancenreich und dem jeweiligen Handlungsverlauf angepasst geführt. Die Regie geleitete den Zuschauer verständlich und fantasievoll durch die Handlung und hatte sich viel einfallen lassen, was die Ausstattung anging. Besonders zu loben war die detailreiche und liebevolle schauspielerische Führung der Interpreten. Der Gesang war durchweg auf gutem Niveau. Wieder einmal bewies die Provinz, welch hohe Opernkultur im deutschsprachigen Raum auch in kleinen Städten zu finden ist. Das applausfreudige Publikum brachte seine Wertschätzung für diese Leistung deutlich zum Ausdruck.


Die Nachbarstädte Halberstadt (42.000 Einwohner) und Quedlinburg (21.000 Einwohner) sind nur 13 km voneinander entfernt und betreiben einen gemeinsamen Theaterverbund, das Nordharzer Städtebund-Theater. Beide Städte sind für sich einen Besuch wert. Quedlinburg ist ein wahrhaft historischer Ort und mit seinen zahlreichen Fachwerkhäusern eine der schönsten Städte, die ich kenne. Die ehemals ähnlich schöne Kleinstadt Halberstadt wurde vier Wochen vor Kriegsende von einer US-amerikanischen Bomberflotte zu über 80 Prozent zerstört. Die zerbombten Wohnhäuser wurden vom DDR-Regime durch Plattenbauten ersetzt. Diesem Angriff am 8. April 1945 fiel auch das alte Halberstädter Theater zum Opfer. Der Stadtparksaal Elysium wurde zum Theater umgebaut und schon 1949 eröffnet. Er bietet 501 Personen Platz.



Der Zuschauerraum besteht aus einem stark ansteigenden Parkett, so dass jeder gut sieht. Im Orchester zählte ich zwei Kontrabässe und drei Celli.






Lindorf mit erschlichenem Schlüssel



Hinter dem Vorhang wurde ein zischendes Geräusch hörbar. Dann begann das Orchester pünktlich mit schön forte und piano akzentuiertem maestoso. Der Vorhang ging auf, und man blickte in eine verräucherte Kneipe. Aha, das zischende Geräusch kam wohl vom Rauchaugust hinter dem Vorhang. Hoffmann saß in einem Kaminzimmer. Das Orchester erfreute mich gleich mit seinen schön nuancierten crescendi und decrescendi.


Eine schwer zu definierende weibliche Gestalt kam herein, Gesicht verschleiert und bucklig. Ich tippte auf Hexe. Sie inspizierte die Bühne. Ihr schöner Gesang identifizierte sie als Muse. Bei der Premierenfeier erfuhr ich, dass sie eine Pennerin darstellen sollte, um die alkoholisierte Atmosfäre zu umreißen, in der sich Hoffmann befand. Ein großer Flügel stand im Raum.


Die Muse zug sich um zum Studenten und setzte sich einen Zylinder auf. Ein riesiger Lindorf trat herein und wurde gleich mit der Muse handgreiflich. Lindorf stellte sich mit gekonntem Gesang vor und bekam dafür seinen verdienten Szenenapplaus. Musikalisch bisher alles bestens, und mit jedem Takt erfreute mich das Orchester mit seinen feinen Nuancen und gefühlvollem Spiel.


Corps-Studenten und Alte Herren in gepflegten zeitgemäßen Kostümen traten auf. Dann erschien ein fahriger und offensichtlich übel gelaunter Hoffmann und bestach gleich mit klarer und kultivierter Tenorstimme. Sein Blick fiel auf ein großes goldgerahmtes Bild von Stella, das an der Wand hing, das er verklärt betrachtete.


Im Kreise seiner Kumpane heiterte sich seine Miene auf. Als er mit dem Klein-Zach begann, zog er seinen Mantel verkehrt herum an und markierte so den hässlichen Zwerg. Dabei sang er seinen Freund Niklaus an, dem dieses „Ständchen“ aber gar nicht gefiel.


Als Hoffmann zu Stella abschweifte und deren Portrait ansang, floh sein Freund Niklaus entsetzt, als Hoffmann sie/ihn zu küssen versuchte.


Für den Klein-Zach bekam Hoffmann kräftigen Applaus. Der war auch voll verdient. Hervorzuheben war auch das lebhafte und detaillierte Agieren aller Darsteller einschließlich des Chores. Hier wurde die Handlung durch kongeniale Gesten plastisch dargestellt. Als Hoffmann zum Beispiel den Rotwein pries, posierte er als Sommelier mit weißer Serviette über dem Unterarm und zeigte das Etikett auf der Flasche. Auch das gegenseitige Anfiesen Hoffmann – Lindorf nahm ziemlich handfeste Formen an.


Spalanzani, Olympia, rechts vorne Cochenille mit Harfe



Im Olympia-Akt befanden wir uns wieder im gleichen Raum. Als Hoffmann von Olympia schwärmte, erschienen aus den Wandmedaillons plötzlich riesige Augäpfel, die sich nach einiger Zeit anfingen zu drehen. Spalanzani war ein wirrer Typ mir roter Perücke und einer leuchtenden Lichtquelle auf der Stirne. Der hatte nicht nur eine Olympia erschaffen, sondern auch eine Art Monster des Frankenstein, das steifen Schrittes immer mal wieder über die Bühne wankte. Olympia ruhte noch hinter einem Vorhang, als Niklaus schon die Vogelarie sang.


Aus dem Kamin heraus kam Coppelius gekrochen. Ein unheimlicher Geselle, der an einen der düsteren Zauberer aus Harry Potter erinnerte. In der Hand trug er einen Zauberstab, an dessen Spitze sich ein großer Augapfel befand. Diesen hin und her bewegend hypnotisierte er den Hoffmann, und nun begannen sich die sieben Augäpfel in der Seitenwand ebenfalls hin und her zu drehen.


Olympia war nun sichtbar geworden, und Hoffmann sang sie so schön inbrünstig an: „Himmlisches Weib“, dass er wiederum Szenenapplaus erhielt.


Als Spalanzani dem Coppelius einen ungedeckten Scheck gab, bellte ein Hund. Dieses Motiv ist wohl eine Anspielung auf eine Praxis von Malern, einen bellenden Hund abzubilden, wenn etwas Unmoralisches im Gange war.


Spalanzanis Festgäste kamen als tatterige Blinde mit Sonnenbrillen herein, ganz in Schwarz gekleidet. Dieser Chor sang so lebhaft und präzise, dass er Szenenapplaus bekam. Das geschieht ganz selten. Als die Choristen sangen „Ihre Augen sind sehr schön“, rollte die solchermaßen gepriesene Olympia heftigst mit denselben. Zu ihrer Arie brachte Cochenille, der wie eine Figur aus Biene Maja gestylt war, eine Harfe herein, deren Rahmen die Gestalt eines menschlichen Ohres hatte. Was für eine Fülle von optischen Einfällen hier geboten wurde, was für Augenschmäuse für mich notorischen Eidetiker!


Olympia und Hoffmann


Als Olympia zu ihrer Arie anhob, leuchtete Spalanzanis Stirnlampe rot, wohl dessen Aufregung zeigend. Gekonnt gesungen ertönte Olympias Arie. Doch was tat sie dazu? Plötzlich hielt sie eine Schere in der Hand, mit der sie ein zuvor gefaltetes rosa Papier zerschnitt, so dass allerlei Schnipsel nach unten fielen. Und plötzlich zog sie, während sie ihre Arie perfekt ablieferte, ihre Arme auseinander und hielt ein Band von Faltschnittmännchen zwischen beiden Händen. Für diese Spielerei gab es mittendrin einen Sonderapplaus, der aber in diesem Fall angebracht war. Im weiteren Verlauf ihrer Arie schälte sie einen Apfel, den sie dann quasi als Eva dem Adam Hoffmann aufs Maul drückte.


Dazu schaute Spalanzani beifallheischend in die Runde. Viele lustige Details waren hier zu sehen.


In ihre perfekt gesungene und mit lebhafter Mimik begleitete Koloraturarie baute sie noch eine Passage aus der Königin der Nacht ein. Für diese witzigste Olympia seit Langem gab es Jubel und langen Applaus.


Den Walzer tanzte Hoffmann dann mit Niklaus, aber sehr zu dessen Verdruss.

Olympia wurde immer frecher und nahm Hoffmann die Zauberbrille weg und zerbrach sie.


Coppelius zerstörte Olympia mit seinem Zauberstab. Als der getäuschte Hoffmann kräftig verlacht wurde, hielt er sich gedemütigt beide Ohren zu.



Es gab kräftigen Applaus für diesen Akt, der jedoch vom Dirigenten erstickt wurde, als er die düsteren Akkorde des Antonia-Aktes erklingen ließ.



In kürzester Zeit hatte man die Antonia umgezogen, nur ihr Gesicht war noch weiß geschminkt, was aber der kranken Antonia nicht fremd ist.



Krespel trat als tatteriger Greis auf, und Franz sang, dass ihm die Methode fehle. Bei seinem Auftritt tanzte er mit einem Kleiderständer.



Mit einer gekonnten Mezzo-Koloratur machte sich dann Niklaus über Olympia lustig und sang darauf eine wunderschöne Geigenarie, diesmal mit beiden Strophen. Das ist leider viel zu selten. So oft wird sie ganz gestrichen, wie zuletzt in Frankfurt, und wenn sie gesungen wird, dann oft nur zur Hälfte. Dank an Dramaturgie und Regie und natürlich an die ausgezeichnete Interpretin, die auch vom Publikum mit langanhaltendem und kräftigem Applaus bedacht wurde.



Die Interpretin aller drei Rollen erfreute ihr Publikum nun mit einem dramatischen und kultivierten Sopran. Sie gab eine leidende Antonia, die zu wissen schien, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.



Großartig kamen dann die Duette Hoffmann – Antonia, die ihren verdienten Applaus bekamen.



Doktor Mirakel kündigte sich schon früh durch eine geöffnete Tür an, dann durch die Türklappe, und drängte sich dann herein. Seine schwarzumrandeten Augen gaben ihm ein unheimliches Aussehen. Bei der Pseudo-Diagnose horchte er einen mit weißem Tuch bespannten Tisch mit seinem Stethoskop ab.



Als Hoffmann und Krespel sangen „Wie kalt es mich anweht“, sorgte die aufmerksame Beleuchtung für die entsprechende Atmosfäre.



Bei der „Untersuchung“ reckte sich eine weiße Hand aus dem Tuch hervor, unter dem ein rotes Licht im Herzrhythmus blinkte. Daraufhin verfärbte sich das Tuch blutrot.



Dann klimperte Mirakel mit seinen homöopathischen Fläschchen, wobei er plötzlich vier Hände hatte. Das war der unheimlichste und beklemmendste Mirakel seit Langem.





Das große Bild der Stella neigte sich nach vorne, dahinter erschien Mirakel. Aus dem Fenster im Bühnenhintergrund erschien dann die Mutter in Weiß, mit einem Schleier verhüllt. Kopflose Puppen bewegten ihre weißen Hände zum Terzett, eine weiße Leiche erhob sich aus dem Flügel, eine weitere Leiche bewegte sich in einem Glassarg. Das Publikum spendete Beifall für das in einer überaus gespenstischen Szene gesungene Terzett Antonia – Mutter – Mirakel, gefolgt von einem ergreifenden Todesgesang der Antonia. Das war der unheimlichste Antonia-Akt, den ich je gesehen habe.



Für diesen Akt gab es langanhaltenden Applaus.



In der Pause bemerkte ich ein Reihe junger Mädchen im Publikum, aber nur einen Jungen, der in Begleitung seiner Mutter war.



Giulietta und Pitichinaccio




Flirrende Geigen eröffneten den Giulietta-Akt mit einer sinnlichen Barkarole. Hoffmann und Niklaus befanden sich in einem Raum, der seine Architektur veränderte, die Decke hob sich, die Mauern und Säulen neigten sich wie von Geisterhand bewegt, und der Kristallleuchter schwankte heftig. Die Welt war aus den Fugen.


Giulietta trug nun Rot und hohe Lederstiefel und räkelte sich auf dem Flügel, an dem Niklaus spielte. Wie von Nirgendwo füllte sich die Bühne mit lauter bizarren Gestalten. Sie krochen aus den Kulissen, unter dem Flügel hervor und waren einfach plötzlich da, sich im Takte der Barkarole wiegend, die, wie es mir gefällt, ohne Piccoloflöte begleitet wurde.


Die Bühne war voller bizarrer Gestalten in Kostümen aus aller Herren Länder, von denen einige in Bilder des Hieronymus Bosch gepasst hätten. Dapertutto war noch größer gemacht worden durch Lackstiefel mit hohen Plateausohlen. Eine schwarze Augenmaske und ein schwarzer Umhang ließen ihn bedrohlich wirken. Schwarze Teufel begleiteten ihn, als er die Spiegelarie sang. Begehrliche Hände reckten sich aus allen möglichen Öffnungen dazu. Für die wunderschön gesungene Arie bekam er den verdienten Applaus.


Das Bühnenbild wurde nun weitgehend vom exotisch gekleideten Chor gebildet, der dauernd in Bewegung war. Ein Lob der Regie für diese fantastische Atmosfäre.


Pitichinaccio war als Hofnarr gewandet. Schlemihl war eifersüchtig auf Hoffmann und stritt sich mit Niklaus. Als Giulietta ihr Klagelied sang, umwickelte sie sich mit einem roten Seil, das schließlich auch Hoffmann umfing.


Der auf dem Flügel stehende Hoffmann wurde von den Teufeln vor einen großen Spiegel gefahren, der ihm dann sein Spiegelbild raubte, indem er erblindete. Wunderschön sangen Hoffmann und Giulietta ihr Duett.


Hoffmann, in Siegeszuversicht, provozierte Schlemihl. Schön, wie dieser Konflikt herausgespielt wurde. Das folgende Degenduell war umsonst, denn die satanische Giulietta hatte sich schon verabsentiert. Von dem geheimnisvollen Fenster im Hintergrund, aus dem Olympia gekommen war, in dem die Mutter erschienen war, in dem Hoffmann sein Spiegelbild verloren hatte, lachte sie nun den verstörten Hoffmann aus. Erstaunlich, welche Wandlungsfähigkeit Bettina Pierags sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch an den Tag legte. Jede ihrer drei verschiedenen Rollen verkörperte sie überzeugend. Die Koloratur der Olympia schien ihr am nächsten zu liegen.


Muse und Hoffmann


Große Verwirrung machte sich auf der Bühne breit, als alle Choristen plötzlich Hoffmann-Masken vor ihren Gesichtern trugen. Was Hoffmann zustieß, kann jedem passieren. Wir alle sind Hoffmann.


Fließender Übergang zu Lutters Kneipe. Die Muse hatte ein Buch, wohl Hoffmanns Erzählungen, in der Hand und sang, dass Olympia, Antonia und Giulietta eine Frau seien. Dann sagte sie laut „Jetzt entscheidet es sich“, als Stella auftrat, gewandet in ein rotes Krinolinenkleid.


Der Sieg der Muse über Stella wurde gut herausgespielt. Hoffmann wollte Stella gar nicht mehr. Eine pikierte Stella musste sich den Rest des Klein-Zach gefallen lassen.


Schön sahnig leitete das Orchester den Abgesang der Muse auf Hoffmann ein. Dazu hielt sie Hoffmanns Erzählungen in der Hand, aus denen sie zitierte. Dann hob sie den trunken am Boden liegenden Hoffmann auf. Hoffmann war alleine auf der Bühne, als der Abgesang auf ihn erklang. Er blätterte in seinen Geschichten, die er nochmal zu durchleben schien.


Einige Seiten müssen ihm nicht gefallen haben, denn er riss sie heraus und warf sie ins Feuer. Das waren vermutlich die Erlebnisse mit Stella.


Spontaner Jubel brach aus, noch bevor der letzte Akkord erklang, es wurde getrampelt, als der Vorhang die Darsteller freigab. Es dauerte nur eine Minute, dann hatte sich der gesamte Saal erhoben und spendete stehenden Applaus. Eine solche Spontaneität hatte ich noch nie erlebt. Zahlreiche „bravo“-Rufe belohnten die ausgezeichneten Solisten. Auch der Regisseur, der Dirigent und das Orchester wurden bejubelt.

Die obigen Szenenfotos wurden uns vom Nordharzer Städtebund-Theater zur Verfügung gestellt. Alle Rechte liegen bei diesem und dem Fotografen Jürgen Meusel.Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Dem Erfolg schloss sich eine nette Premierenfeier ohne die üblichen Rede(n) an, auf der die folgenden Bilder entstanden.



Bilder von der Premierenfeier


Dirigent und Regisseur





Widersacher




Hoffmann und Muse






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