Experimenteller »Hoffmann« in Bielefeld

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Besuchte Vorstellung 1. Dezember 2012 (Premiere)






Regie


Helen Malkowsky

Dirigentin


Elisa Gogou

Chorleitung


Hagen Enke

Bühnenbild


Saskia Wunsch

Kostüme


Henrike Bromber

Version


Kaye-Keck

Sprache


Französisch




Hoffmann


Timothy Richards

Muse


Mélanie Forgeron

Olympia


Cornelie Isenbürger

Antonia


Christiane Linke

Giulietta


Sarah Kuffner

Widersacher


Tuomas Pursio






Fazit Bielefeld: Ein in unsere Zeit versetzter unkonventioneller »Hoffmann« voller Überraschungen. Ein durchweg weibliches Regieteam, das viel riskiert hat, aber dabei nicht abgestürzt ist, also eine der wenigen gelungenen Modernisierungen dieser Oper. Musikalisch alles bestens mit einem ausgezeichneten Orchester, dazu ebenso guter Gesang in allen Rollen, wobei besonders die Muse und die Giulietta herausragten. Schon allein die Stimme von Melanie Forgeron ist eine Reise nach Bielefeld wert. Gute Auswahl der Musiknummern und sinnvolle Kürzungen besonders im ersten Akt. Kein Wackelpudding in der Dr.-Oetker-Stadt also, sondern knallhartes Regietheater. Die moderne, oft karge Ausstattung überlässt Vieles der Fantasie des Zuschauers. Wieder einmal hat ein Stadttheater abseits der Metropolen gezeigt, wozu beste deutsche Theaterkultur fähig ist. Das Publikum belohnte das Ensemble mit fast zehnminütigem Applaus.

Auf Bairisch würde man diese Inszenierung als „vogelwild*, aber prima“ bezeichnen.


Ein kurzer Hörbericht kann hier angehört werden.

Die Neue Westfälische schrieb eine gekonnte Kritik.

* vogelwild (baiirisch) = ziemlich unkonventionell



Bielefeld soll es nach einer spaßig gemeinten Verschwörungstheorie gar nicht geben. Zeitweise stimmte das, denn Ende des 2. Weltkrieges zerstörten britisch-amerikanische Bomber die Stadt so gründlich, dass man heute in der Bielefelder Altstadt kaum mehr ein altes Haus sieht. Auch das Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute Stadt-Theater wurde erheblich zerstört. Erfreulicherweise hat man die charakteristische Jugendstilfassade wieder original aufgebaut. 2004 wurde das Theater gründlich renoviert. Es hat gut 600 Plätze. Von außen wirken die Teile hinter der Fassade wie eine alte Burg.


Der Innenraum besteht haupstsächlich aus einem eher kleinen Parkett und einem ziemlich großen Balkon, der steil ansteigt, so dass jeder gut sieht. Daneben gibt es noch vier seitliche Gondeln in dem modern und zweckmäßig gestalteten Zuschauerraum. Man sitzt bequem mit ausreichend Fußraum. Die Akustik ist gut und ausgewogen. Im Orchestergraben zählte ich drei Kontrabässe und vier Celli. Das Haus war voll besetzt, das Publikum altersmäßig gut durchmischt.


Lindorf mit Stellas Brief


In diesem Wagner- und Verdi-Jubiläumsjahr mit seinen wenigen »Hoffmännern« muss man für jeden einzelnen dankbar sein. Wenn man dann noch einen erfrischend-frechen »Hoffmann« mit einigen originären Einfällen serviert bekommt, die noch dazu werkskonform sind, freut einen das noch mehr. Obwohl ich diese Oper nach 63 verschiedenen Inszenierungen in den letzten sechs Jahren ziemlich gut kenne, muss ich gestehen, dass mich das Feuerwerk der Einfälle gelegentlich überforderte und ich nicht alle Szenen sofort verstand.


Die Bielefelder Dramaturgie hat die übliche Rahmenhandlung der Oper leicht verändert. Der Dichter Hoffmann befindet sich auf einer Lesereise, die ihn auch in die Stadt führt, in der seine alte Liebe Stella im Don Giovanni als Donna Anna auftritt. Seine Muse wird zu seiner Agentin, die ihn zu neuer Kreativität anregen will.

Mitwirkende einer Probe des Schauspiels Lieben und Leiden in Eisenach kommen in Lutters Kneipe, wo sie Hoffmann treffen.


Der Vorhang ging auf, und man blickte auf eine Kneipe mit Stehtischen und hohen Hockern. Mittelschnell erklangen die Auftaktakkorde. Der Dichter Hoffmann kritzelte nervös und verstreute einige Texte auf Papier. Aus dem Hintergrund erklang das Gluck-Gluck des Chores dazu. In der Kneipe hing ein Plakat mit dem Portrait Hoffmanns: Eine Autorenlesung wurde angekündigt. Die Muse kam zu Hoffmann in das Literaturcafé.


Lindorf trat auf und luchste dem Boten flugs Stellas Brief an Hoffmann ab. Eine männliche Gestalt in einem Ringelhemd, die ein Alter Ego des Niklaus darstellen sollte, wurde in einen Spind gesperrt. Die Muse war inzwischen zu Hoffmanns Begleiter Niklaus geworden.



Gestalten in diversen Theaterkostümen strömten auf die Bühne, die oben genannten Mitwirkenden des Schauspiels Lieben und Leiden in Eisenach. Dann sang Hoffmann den Klein-Zach. Als er zu Stella überging, übernahm eine Choristin deren Rolle. Und dann gab es den ersten Szenenapplaus für den stimmlich gut rübergebrachten Klein-Zach.


Um seine Erzählungen zu Papier zu bringen, spannte Hoffmann ein Blatt Papier in eine Reiseschreibmaschine. Dann bewegte sich die große Drehbühne, und Spalanzanis Labor erschien, in dem der Physiker auf einer kleinen Seitenbühne an einem Homunculus bastelte. Blickfang aber war ein weißer Torso von Gestalt und Ausmaßen einer Nana der Niki de Saint Phalle. Professor Spalanzani selbst war eine Art Hippie mit langen Haaren.


Hoffmann und Olympia


Wunderschön sang Niklaus die kleine Arie von den Augen aus Emaille und dem Spielhahn, mit dem sie den verknallten Hoffmann warnen wollte. Dann trat Coppelius mit seinen Brillen auf. Hoffmann war hin und weg von der Wirkung der Zauberbrille.


Dann kam die erste große Überraschung dieser Inszenierung. Zur Melodie der Ouvertüre von Jacques Offenbachs Operette Die Reise zum Mond, besser bekannt als die Spiegelarie, wurde die fantastische Wirkung der Zauberbrille beschrieben.


Olympia auf der kleinen Seitenbühne auf der Bühne wurde so langsam fertig. Er modellierte sie an Hand eines lebenden Modells, das vor ihm stand. Für die eingängige Melodie der Brillen- bzw. Spiegelarie gab es natürlich den verdienten Applaus an den hervorragenden Sänger der Widersachers Hoffmanns.


Die Zauberkraft von Coppelius´ Brille war natürlich für den Dichter Hoffmann ein gefundenes Thema, das er sofort zu Papier bringen musste. Dann wurde die fertige Olympia auf eine Sackkarre gelegt und zu ihrem Auftritt gefahren.



Spalanzani nutzte die hilflose Olympia für seine Zwecke aus, um mit ihr zu glänzen. Sie wurde in den Nana-Torso gestellt, auf den dann Spalanzani mit einem Paintball-Gewehr schoss. Da wurde eine Art Kunsthappening inszeniert. Blutend wankte dann die bedauernswerte Olympia aus dem Torso, um ihre Arie bravourös zu Ende zu bringen. Applaus für die abgeschossene Olympia, die ihre Arie auf dem Boden vollenden musste.


Für die schwer beschädigte Olympia musste nun Professor Spalanzani Ersatz herbeischaffen, der in Form einer künstlichen Puppe erschien. Diese wurde von Coppelius geschüttelt und gewürgt. Hier war schwer was los auf der Bühne, und man musste schon genau hinsehen, um das alles mitzubekommen. Hoffmann tanzte dann mit der Puppe, die auf einem fahrbaren Untersatz rollte.


Der betrogene Coppelius versuchte, mit einer Zange die von ihm an Spalanzani verkauften Augen der Olympia herauszuholen. Der arme Hoffmann musste sich schließlich mit einem Arm der zerstörten Olympia trösten. Freundlicher Applaus für diesen Akt und Pause.


Baby, Hoffmann und Antonia


Als der Vorhang zum Antonia-Akt aufgingm standen auf der Bühne viele Umzugkartons, was schon mal in Osnabrück zu sehen war. Neu war jedoch ein Kinderwagen. Aha, Antonia war also nun Mutter eines Kindes und Hoffmann vermutlich der Vater. Das hatte ich noch nicht gesehen und stellte eine neue Deutung des Inhallts von Antonias Auftrittsliedes: elle a fuit, la tourterelle dar. Die Taube ist verschwunden. Hoffmann hatte sich im Bielefelder »Hoffmann« also aus dem Staube gemacht und Antonia mit dem Kind sitzen lassen. Das soll auch im wirklichen Leben vorkommen, wenn sich Frauen im Gefühlsrausch mit irgendwelchen Hallodris oder Exoten paaren.


Wunderschön lyrisch mit einer kleinen Portion Dramatik sang sie ihre klagende Arie und später die Duette mit Hoffmann.


Auch wieder eine Bielefelder Besonderheit: Aus Franz wurde der Gastarbeiter Francesco, der seinen Auftritt auf Italienisch absolvierte. Und er beklagte (in der Übersetzung) seinen Mangel an Methode. Hat wieder mal jemand geschlafen. Auch eine Anspielung auf den Papageno wurde hineingepackt.



Dann kam meine Lieblingsarie, die wunderschön von Melanie Forgeron vorgetragene Geigengarie, die natürlich beklatscht wurde. Dann begrüßte Hoffmann, etwas zurückhaltend, wie ich fand, sein Kind.






Antonia und Mutter


Nun folgte wieder ein für diese Inszenierung typische drastische Szene. Antonia wurde der Mutterrolle überdrüssig, schmiss den Kinderwagen um, um sich ganz der Karriere widmen zu können. Sollen sich doch Vater und Großvater um den Balg kümmern, der nun eigentlich hätte plärren müssen. Statt des Säuglings nahm sie eine Partitur in den Arm. Das war deutlich.


Aber trotzdem wurde noch das schöne chanson d´amour gesungen, das natürlich verdient beklatscht wurde. Der Bösewicht Mirakel kam nun mit blutbeflecktem Kittel herein. Nach der Pseudodiagnose und Beschwörung Antonias sang diese nicht die übliche dramatische Sequenz im Hintergrund, sondern gab einen schrillen Schrei von sich.


Nachdem sie Hoffmann versprochen hatte, nicht mehr zu singen, bekamen wir ein schönes Beispiel für die gelungene Orchesterbegleitung: Richtig schön diminuendo, rallentando und depressiv folgte das Echo.


Nachdem Mirakel die Mutter heraufbeschworen hatte, trat die in einem weißen Rokokokostüm auf und trug mit ihrem ausgezeichnetem Gesang zum hohen musikalischen Niveau der Bielefelder Aufführung bei. Dort passte einfach alles, Orchester und Sänger. Das Terzett wurde stürmisch und verdientermaßen beklatscht. Ich finde, dieses Terzett gehört zum Besten und musikalisch Anspruchsvollsten, was die Opernmusik zu bieten hat. Erfreulicherweise ließ die Dirigentin das Publikum applaudieren, so lange es wollte. Leider lassen die meisten ihrer Kollegen hier gleich weiterspielen.



Dann sang sich Antonia pianissimo zu Tode, was auch nicht jeder Sopranistin gelingt. Hoffmann zeigte zum ersten Mal richtig Gefühl und warf seine Schreibmaschine weg.

Dann erfolgte ein nahtloser Übergang zur Barkarole, deren Romantik allerdings durch die Piccoloflöte reduziert wurde. Die Bühne drehte sich, Antonia stand noch mit dem Kind auf dem Arm da, als schon Giulietta sichtbar wurde. Die Regie hatte mehrfach in den Übergängen auf die Dreieinigkeit Olympia – Antonia - Giulietta hingewiesen.


Giulietta, Pitichinaccio, Hoffmann, Niklaus, Dapertutto und Schlemihl beim Verlust des Spiegelbildes


Das wurde nun eine schöne Barkarole mit dem weichen und vollen von einem Alt-Timbre angehauchten Mezzo des Niklaus und dem dynamisch-dramatischen Sopran der Giulietta. Richtig plüschig war Giuliettas Palast nicht. Die Bühne hatte in allen Akten durchweg einen trashigen Touch, und chez Giulietta trank man nun aus Pappbechern. Da brauchte man auch keine kitschige Gondel auf der Bühne.


Das Sammelsurium an heterogenen Gestalten bevölkerte wieder die Bühne, denn im Giuliettas Akt war wieder der ausgezeichnet eingestellte Chor gefragt. Vom Buschauffeur bis zur mittelalterlichen Köchin aus einem Breughel-Gemälde war alles vertreten. Nun gab es sogar Applaus für den Chor, was selten vorkommt.


Dann bat eine Lautsprecherstimme alle Mitwirkenden von der Bühne. Hoffmann war nun mit Giulietta alleine, die sich schick für eine Party angezogen, aber gar nichts Nuttiges oder Kurtisanenhaftes an sich hatte. Wie waren wieder in Lutters Taverne, und Dapertutto sang nun zur Original-Melodie Jacques Offenbachs die Worte der Diamantenarie.



Zu den verschiedenen Szenen des Giulietta-Aktes entfaltete das Orchester nun eine beeindruckende symphonische Dramatik. Für das Duett Hoffmann – Giulietta gab es BRAVA-Rufe.




Die Muse verteilt Hoffmanns Bücher


Der Verlust von Hoffmanns Spiegelbild fand auch auf ungewöhnliche Weise statt. Es wurde virtuell in die Bücher eingeklappt, welche die anderen Beteiligten in ihren Händen hielten. Es, d.h. seine Seele, war nun in Hoffmanns Erzählungen eingeordnet. Das Duell war gestrichen. Ich vermisste es nicht.


Beim Übergang zum Finale wurde die Barkarole wiederholt, und zwar abwechselnd von Olympia, Antonia und Giulietta gesungen, die Dreieinigkeit der Geliebten Hoffmanns beschwörend. Hoffmann torkelte betrunken in Lutters Kneipe, wo Stella mit bösen Blicken auf ihn wartete. Erbost hatte sie das Plakat mit Hoffmanns Portrait heruntergerissen. Im Hintergrund erklang leise der wunderschöne à cappella Männerchor, der leider viel zu selten (und nur in der Kaye-Keck-Version) zu hören ist: Jede Seele erliegt den Tränen der Liebe ...


Dann kam das Finale. Hoffmanns Lesereise ging zu Ende. Sein letzter Auftritt wurde auf dem Plakat angekündigt: Nur noch einmal. Bücher mit Hoffmanns Erzählungen lagen auf dem Tisch. Ergreifend schön trug die Muse den Abgesang auf Hoffmann vor. (Ich hoffe, das Bielefelder Publikum weiß diese einmalig schöne Stimme zu würdigen). Sie verteilte Hoffmanns Bücher an das Publikum.


Stella wartet auf Hoffmann


Doch was war aus Hoffmann geworden? Der arme Dichter musste in Bielefeld leider im Suff verkommen oder gar sterben, was in letzter Zeit selten geworden ist. Das passte nun gar nicht zur triumphalen Musik der Apotheose. Hoffmann soll doch gerettet sein, nicht gerichtet! Schließlich hat Jacques Offenbach seine Oper musikalisch nicht mit einem Requiem, sondern mit einer Verklärung des Dichters enden lassen. Und sagt nicht die Muse zum Schluss, dass sie Hoffmann liebt? Da kann man doch nicht den Partner wie in einer griechischen oder Shakepeare´schen Tragödie schnöde sterben lassen. Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts war die Zeit der großen Entwürfe angebrochen, und man wurde zum Leben verdammt. Die Zukunft war angebrochen.

Dann sang auch Stella, was sie nur in der teuren Kaye-Keck-Version tut. Es folgte ein fulminanter Schlusschor, der das Publikum zu spontanem Applaus und Jubel hinriss.



Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen beim Theater Bielefeld und beim Fotografen Kai-Uwe Schulte-Bunert. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Fast zehn Minuten lang dauerte der Schlussapplaus, der auch in rhythmisches Klatschen überging. Alle Solisten wurden bejubelt, auch die zierliche Dirigentin, die im schwarzen Frack auf die Bühne kam. Applaus auch für das weibliche Regieteam. Keine Buh-Rufe für die manchmal doch eigenwilligen Interpretationen, was für die Aufgeschlossenheit des Bielefelder Publikums spricht.



Dann lud das Bielefelder Theater zu einer gut besuchten Premierenfeier ein, an die sich noch ein Chill-Out in einem nahegelegenen Nachtcafé anschloss.







Regisseurin und Hoffmann



Dirigentin



Antonia



Olympia



Muse, schon aus Aachen bekannt



Giulietta und Bühnenbildnerin



Stellvertretender Intendant und Widersacher







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