Erfrischender »Hoffmann«

am Stuttgarter Wilhelma-Theater

www.wilhelma-theater.de

Besuchte Vorstellung 8. Juni 2016 (Premiere)






Regie


Bernd Schmitt

Dirigent


Nicholas Kok

Chorleitung


Melani Dreher

Bühnenbild und Kostüme


Birgit Angele

Version


Ergänzte Guiraud-Choudens

Sprache


Französisch




Hoffmann


Tianji Lin / Roman Poboinyi

Muse


Lisbeth Rasmussen

Olympia


Clémence Boullu

Antonia


Lara Scheffler

Giulietta


Anaïs Sarkissian

Lindorf / Crespel


Byung-Gil Kim

Coppelius / Schlemihl


Philipp Franke

Dapertutto


Thomas Røshol

Mutter


Maria Theresa Ullrich a.G.





Es kommt ja nicht so oft vor, dass in einer Großstadt innerhalb weniger Wochen zwei »Hoffmänner« Premiere feiern. Die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart lieferte als Jahresabschlussarbeit ein gelungenes Kontrastprogramm zum statischen und autistischen »Hoffmann« Christoph Marthalers an der renommierten Staatsoper. Die Inszenierung war lebhaft, kreativ und streckenweise im Stil einer opéra bouffe, wobei der Gesang in einigen weiblichen Rollen in nichts hinter dem der Staatsoper zurückblieb. Ein Feuerwerk witziger, manchmal bizarrer Ideen regte die Fantasie der Zuschauer an. Ein nur 18-köpfiges Orchester lieferte einen erstaunlich dichten und präzisen Klang. Man hatte wohl intensiv geprobt, denn alles klappte bestens. Glückwunsch an die Opernschule. Eine Empfehlung an Jossi Wieler, den Intendanten der Staatsoper: Laden Sie das wackere Ensemble der Opernschule in Ihr Haus ein. Ihr Publikum wird begeistert sein.

Für mich persönlich begann in Stuttgart das Zählen der letzten zehn »Hoffmänner« zum Hundersten: Stuttgart 2 war nun meine persönliche Nummer 91 seit April 2007.




Die Premiere am Wilhelma-Theater ist die dritte unter meinen Besprechungen, die von Studierenden im Rahmen einer Jahresabschlussarbeit gestaltet wurde. Die erste war in Glasgow. Die zweite in München. Nun hat auch die Stuttgarter Opernschule einen »Hoffmann« gewählt. Regie führte, wie bei solchen Einstudierungen üblich, ein Dozent der Schule. Für die Absolventen und Studenten ist eine solche Aufführung meist der erste große öffentliche Auftritt, und entsprechend groß sind die Nervosität, aber auch die Erwartungen und Hoffnungen.


Das Stuttgarter Wilhelma-Theater ist ein schnuckeliger Bau, 1840 eröffnet und 1995 renoviert, und liegt in der Nähe des gleichnamigen Tierparks. Er ist innen hübsch verziert und hat den Grundriss eines klassischen Amphitheaters. Das Theater ist Aufführungs- und Übungsstätte der Stuttgarter Opernschule. Es gibt … Plätze. Für Kommunikation mit dem Theater sollte man Geduld aufbringen, aber es klappt dann irgendwann schon.


Eigentlich liegt das Theater gleich in der Nähe einer U-Bahnstation, da aber nach der Vorstellung kein Zug mehr nach München fuhr, setzte ich mich ins Auto, was sich als Fehler herausstellte. Bis an den Stadtrand lief alles glatt, aber für die letzten fünf Kilometer benötigte ich eine Stunde. Der grüne Oberbürgermeister Stuttgarts scheint ab 16 Uhr die meisten Ampeln auf Dauerrot zu schalten, um die Autos, die auch in Stuttgart und um Stuttgart rum gebaut werden, aus seiner Stadt zu vertreiben. Aber ich schaffte es noch, eine Stunde vor Vorstellungsbeginn am Theater zu sein, wo ich einen opern-, kunst- und kulturkundigen Leser meiner Seite traf.


Er hatte auch Marthalers Erzählungen an der Staatsoper gesehen und fand sie gut. Villleicht kann ich ihn ermuntern, seine Gründe hier darzulegen. Diese Marthaler´sche Inszenierung scheidet ja die Geister, aber einige ernstzunehmende Opernfans finden sie gut. Auch bei Mitwirkenden war sie nicht unumstritten. Bei der Premierenfeier an der Staatsoper befragte ich einige Ensemblemitglieder. Die beste Antwort war: „Ich mache hier meinen Job, für den ich bezahlt werde, und mehr sage ich nicht.“



Im Orchestergraben der Wilhelma waren nur 18 Musiker zu Gange. Außer zwei Hörnern war jedes Instrument nur einfach besetzt. Dafür ab es noch ein Piano und ein metallenes Xylofon. Was die 18 Leute für einen erstaunlich vollen Klang herbeizauberten, fand ich verblüffend. Kein falscher Ton den ganzen Abend. Nach Dijon war das das kleinste Orchester. (Dort hatte das Orchester die Premiere bestreikt, aber zwölf willkürlich zusammengewürfelte Streikbrecher hatten die Premiere gerettet. Man hatte in der Eile ein Klavier in den Graben geschafft, und der wackere Pianist hielt die Truppe zusammen, ohne dass jemand dirigierte. Eine Meisterleistung!) Dann gab es noch Hoffmänner mit Combos in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, an der Volksoper Stockholm und im Jugendtheater Hannover mit seiner sensationellen Hoffmann-Show.)


Vor der Premiere gab es eine Einführung durch den Regisseur. Leider war das Theater nur schwach besetzt, und ich vermute, dass viele der Besucher Studierende der Opernschule und deren Angehörige waren. Auch die ehemalige Justizministerin im Kabinett Schröder, Herta Däubler-Gmelin, war im Publikum. Schade, dass nichr mehr Leute gekommen waren, denn was sich nach den viel zu schnellen Auftaktakkorden entwickelte, war höchst sehenswert.


Gluck-gluck in der Küche


Als der Vorhang aufging, zeigte ich eine dunkle Rumpelkammer, die sich aber als moderne Küche erwies, auf deren Geräten in Folie gewickelte Darsteller lagen. Das waren die Choristen, die angehende Sänger der Opernschule sind, denn eine Chorausbildung findet an dieser Schule nicht statt. Ihre blauen T-Shirts wurden von der Firma Getränke-Hoffmann gesponsert. Eine witzige Idee, wenn man weiß, dass E.T.A. Hoffmann einen guten Tropfen zu schätzen wusste.


Als das Licht heller wurde, sah man moderne Küchengeräte, zwei große Kühlschränke, und die 10 Choristen wurden aus den Folien geboren und entwickelten sogleich erstaunliche Lebhaftigkeit. Die Muse kroch in dicker Winterkleidung aus dem Kühlschrank. Gar keine schlechte Idee: die „Übertitel“ wurden in Sprechblasen auf den den dunklen Bühnenhintergrund projiziert. Die Nackenmuskeln danken. Die Texte waren oft flapsig übersetzt. Die Muse sang: „la verité sorte d´un frigo.“ Diese Sortie hatte es schon in Gießen gegeben.



Das tat sie mit gewaltiger, voller, warmer und wohltönendem Mezzo, wie man ihn selten in dieser bestechenden Qualität zu hören bekommt. Dazu erfreute sie mit lebhafter Mimik und Gestik. Donnerwetter, was für eine charismatische Bühnenpräsenz sie ausstrahlte. Und schon gab es den wichtigen ersten Applaus.



Im Chor erschien eine blonde Stella im Trenchcoat. Lindorf kam auch aus dem Kühlschrank. Die Rolle des Briefboten wurde vom Chor übernommen, der sich kollektiv bestechen ließ. Hoffmann wurde von zwei Sängern übernommen, die sich meist gleichzeitig auf der Bühne befanden. Eine gespaltene, aber identisch gekleidete Persönlichkeit, in Socken und einer Art Nachthemd. Mitten im Klein-Zach, als Hoffmann zu Stella übergeht, übernahm der andere Sänger die Schwärmerei für sie. Dazu erschien sie auf dem Bildschirm. Für den doppelten Klein-Zach gab es kräftigen Applaus.



Währenddessen saß Lindorf spöttisch und arrogant lächelnd an einem Tisch. Ich möchte gleich hier betonen, dass die Choreografie, Mimik und Gestik der Akteure auf bemerkenswert hohem Niveau lagen. Nun wurde es bizarr. Coppelius seilte in in GSG9-Montur vom Schnürboden ab und stellte sich in der Luft singend dar und pries sein Repertoire an naturwissenschaftlichen Instrumenten an. Niklaus zeigte komödiantisches Talent in der Vogel-Arie. Für das Terzett Coppelius – Hoffmann – Niklaus gab es Applaus.






Spalanzani trat als Conferencier (Dieter Bohlen?) in roter Glitzerjacke auf, und Olympia schien als Nummerngirl aus einer Weihnachtsrevue zu stammen. Cochenille hüpfte als grotesker Homunculus à la Gollum über die Bühne. Das war schon ein richtiges Panoptikum. Gar nicht schlecht fand ich die Begleitung der Arie der Olympia auf einem Vibrafon oder metallischem Xylofon. Olympia verbrannte sich die Hand auf einer heißen Herdplatte als sie schwächelte, sang aber tapfer weiter. Diese verbrannte Hand wurde vom hingerissenen Hoffmann gedrückt, was sie zum heftigen Jodeln besonders der hohen Töne zwang, die sie korrekt hinbrachte. Jubel und kräftiger Applaus für diese überzeugende Olympia.


Olympia wurde auch zweigeteilt. Die Hoffmänner schmachteten eine kahle Schaufensterpuppe an. Wieder Applaus. Dann erschienen in diesem revuehaften Akt fünf identisch gekleidete Olympien. Schließlich lag die von Coppelius zerschlagene Schaufensterpuppe auf dem Boden, und Hoffmann wurde kräftig verlacht. Auch Spalanzani trauerte über seine zerstörte Sensation. Jahrmarktmusik erklang zum Schluss. Und Pause.



Nach dem schicksalhaft dräuendem Auftaktakkord ergab sich ein merkwürdiger Kontrast. Die blonde Antonia sang zuerst girliehaft tänzelnd in ein Mikrofon. Dann wechselte sie aber in berückend schönen lyrischen und sensiblen Gesang. Anschließend bemitleidete sie sich selbst. Als ihr Vater Krespel auftrat, stand in der Sprechblase schreckliches Kind, wo eigentlich unglückliches Kind erwartet wird.



Ein cabaretreifer Franz trat auf. Und Überraschnung, in der Übersetzung beklagte Franz seinen Mangel an Gesangstechnik. Hatte da vielleicht gar jemand meine Seite gelesen? Diese korrekte Übersetzung ist selten. Bravo-Rufe belohnten ihn. Und dann große Überraschung: die einleitenden Takte zu meiner geliebten Geigenarie erklangen, obwohl weder die Oeser- noch die Kaye-Keck-Version gespielt wurden. Man kann nämlich bei den Rechteinhabern, dem Alkor- oder dem Schott-Verlag, die Rechte für diese Arie erwerben, wenn man die rechtefreie Guiraud-Choudens-Version spielt. Ich empfehle, sich an den Schott-Verlag zu wenden, wo ein kompetenter Lektor für die Contes zuständig ist. Als ich mal beim Alkor-Verlag deswegen anrief, musste ich der zuständigen Dame ziemlich lange erklären, was die Geigenarie ist.



Diese Geigenarie wurde seelenvoll und stimmlich perfekt präsentiert und mit Jubel und langanhaltendem Applaus belohnt. Als sich Hoffmann und Antonia begegneten und stürmisch begrüßten, ging Niklaus enttäuscht nach links ab. Gut mitgedacht. Schöne Duette Antonia – Hoffmann folgten. Vor dieser Antonia kann man nur niederknien. So jung, und schon eine so differenzierende Stimme mit emotionaler Tiefe. Das zweite Duett Antonia – Hoffmann war Met- und Scala-kompatibel.



Der misstrauische Krespel klebte den Kühlschrank zu, damit Hoffmann sich nicht zu Antonia schleichen konnte. Ein eleganter Mirakel in weißem Smoking mit Fliege trat auf. Während der Pseudodiagnose, die Mirakel pulsmessend an Vater Krespel vornahm, wurde auf dem Bildschirm die Untersuchung der Antonia dargestellt. Dann erklang ein stimmgewaltiges Terzett Hoffmann – Krespel – Mirakel.



Krespel sperrte Mirakel in den Kühlschrank, doch der befreite sich flugs wie einst Houdini. Dann versuchte Krespel, Mirakel zu erschießen, doch der ist selbstverständlich unverwundbar. Zur Strafe ertränkte Mirakel den Krespel im Ausguss per Waterboarding à l´americaine. George W. Bush hätte seine Freude gehabt.


Antonia und Mutter


Als Antonia erklärte, dass sie fortan nicht mehr singen werde, band sie sich resignierend eine Schürze um und verrichtete Küchenarbeit. Keine gute Prognose für eine Rolle als Hoffmanns Frau. Antonias Mutter trat in silberfarbigem Kleid mit weißem Pelzmantel auf. Antonia war völlig hingerissen von ihr. Die Ambivalenz der jungen Antonia wurde überzeugend dargestellt.


Ein großartiges gesungenes Terzett Mutter – Antonia – Mirakel folgte. Die beiden Frauenstimmen dominierten. Spontaner Jubel und kräftiger Applaus durfte sich endlich mal entfalten. Dank an den Dirigenten. Antonia starb nicht, sondern verließ die Bühne mit (ihrem Impresario?) Mirakel. Eine neue Variante des Endes eines Anonia-Aktes. Schließlich befanden wir uns in der Inszenierung einer Opernschule. Dort kann man doch eine junge Sängern nicht mit dem Tod bestrafen, nur weil sie singen will.



Sofort ging es weiter mit der Barkarole. Bei dem kleinen Orchester gab es zu meiner Freude auch keine kreischende Piccoloflöte, dafür ein bemerkenswert gutes Cello. Giulietta trat höchst sexy in einem silber glitzernden Bikini auf. Ich weiß nicht, was mich mehr fesselte: die sexy Figur oder der Wohlklang der hochdramatischen Stimme. An einer Hundeleine führte sie einen Sklaven, vermutlich Schlemihl. Dann kam einer der grenzwertigen Gags. Zwei heliumgefüllte Haifischballons wurden ferngesteuert über das Publikum gelenkt, während die Barkarole erklang. Naja, ganz abwegig war das nicht, denn Hoffmann hatte sich in ein Haifischbecken begeben. Für die Barkarole gab es den verdienten Applaus.



Dapertutto war als Andy Warhol gestylt. Da spielte sich nun einre richtige opéra comique am Wilhelma-Theater ab. Dapertutto sang weder die abgeleierte und werksfremde Spiegel-Arie noch Offenbachs schwungvolle Originalmelodie, sondern deren selten zu hörende Variante von tourne miroir. Der dopplelte Hoffmann wurde herumgetreten, bis er sich aus seiner Plastikfolie befreite. Das Lied von eines Mannes Hörigkeit.




Hoffmann und Muse


Giulietta dominierte in den Duetten mit Hoffmann. Was für eine laszive Kurtisane. Feurig, mit überzeugender Dramatik in ihrem vollen, warmen Sopran. Der Verlust des Spiegelbildes wurde so dargestellt, dass der zweite Hoffmann zusammensackte. Den nahm Giulietta in Besitz. Das Duell wurde mit Pistolen ausgefochten, und auf der Bühne wurde ziemlich viel rumgeballert. Mehrere der geklonten Figuren wurden niedergeschossen.


Eine rosa Leuchtschrift ich senkte sich herab. Es ging um Hoffmanns Identität, und er rief nach Stella. Die kam auch, worauf sich Hoffmann und die Muse zerstritten. Hoffmann war nun ziemlich erledigt und zur verlachten Figur geworden, mitleidig beobachtet von Stella und Giulietta.


Die Muse erschien nun im schwarzen Kleid: Der Mann ist erledigt, es lebe der Dichter. Deine Muse befriedet dein Leiden. Dann wurde wild durcheinander gerufen: On est grand par le douleur, mais plus grand par l´amour. Diese Erkenntnis hatte sich bei den Leuten herumgesprochen. Also ein poetisches und versöhnliches Ende. Es wurde dunkel auf der Bühne, und das Publikum merkte nach ein paar Schrecksekunden, dass die Oper aus war.

Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen beim Wilhelma-Theater und beim Fotografen Christoph Kalscheuer. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Jubel für alle Solisten, besonders für die Muse, Antonia und Hoffmann, brava-Rufe für Giulietta.Nach drei Minuten trampelte das Publikum. Fortgesetzter Jubel, bis nach gut fünf Minuten der Vorhang brutal den Applaus beendete.



Nach der geglückten Premiere gab es eine spontane Premirerenfeier ohne Reden, auf der folgende Bilder entstanden.




Spalanzani und Giulietta



Antonia mit echtem und stolzem Vater, der gar nichts dagegen hat, dass seine Tochter singt.



Olympia, Widersacher, Coppelius, Muse


Olympia










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