Kreativ interpretierter »Hoffmann« in Bremerhaven


www.stadttheaterbremerhaven.de


Besuchte Vorstellung 3. Oktober 2021 (Deuxième)





Regie


Johannes Pölzgutter

Dirigent


Marc Niemann

Chorleitung


Mario Orlando & Fakih Hernández

Bühne und Kostüme


Julius Semmelmann

Version


Kaye-Keck

Sprache


Französisch




Hoffmann


Mirko Roschkowski

Muse


Patrizia Häusermann

Olympia


Victoria Kunze

Antonia


Marie-Christine Haase

Giulietta


Signe Heiberg

Widersacher


Marian Pop






Das Stadttheater Bremerhaven wurde vor 110 Jahren gebaut und musste im zweiten Weltkrieg zur Überwindung des Hitlerfaschismus komplett zerstört werden. Es wurde unter Beibehaltung der Jugendstilfassade neu errichtet, wobei Teile der stehengebliebenen alten Fassade integriert wurden. 1952 wurde es wieder eröffnet. Es hat 639 Plätze. Bremerhaven ist Teil des Stadtstaates Bremen, aber eine eigenständige Kommune.

Der Sänger des Widersachers, Marian Pop, aus Rumänien sang diese Rolle übrigens auch im transsylvanischen Kronstadt/Braşov, die auch auf dieser Seite besprochen wurde. Siehe Kronstadt.


Nach der gelungenen Besprechung des Hamburger »Hoffmann« bot Frank Seemann aus Göttingen an, auch den Bremerhaver »Hoffmann« zu besuchen. Hier sein Bericht:


Fazit: Das Stadttheater Bremerhaven bringt Hoffmanns Erzählungen in einer vor allem in Vor- und Nachspiel zwar gerafften, aber ebenso schlüssigen wie stimmigen Inszenierung auf die Bühne. Ausnahmslos alle daran Mitwirkenden erfüllen ihre Aufgabe (und damit auch die Erwartung des Publikums) aufs Schönste und lassen so ganz unmittelbar spüren, wie sehr ihnen die Bühne und der direkte Publikumskontakt – ihre Lebensinhalte – in den zurückliegenden 18 Monaten abgegangen sind. Chor und Orchester sind nicht bloß ohne Fehl und Tadel, sondern richtig gut; dass beide an größeren Häusern umfangreicher sind, liegt in der Natur der Sache, bedeutet aber mitnichten, dass sie dort eo ipso auch besser sind. Nicht minder zu loben sind die Interpret:innen der sieben großen Solopartien: Mirko Roschkowski ist ein wunderbarer Hoffmann, dessen schmelzender Tenor für Partien dieses Repertoires geradezu gemacht scheint (er hätte in Bremerhaven eigentlich schon in der vergangenen, ausgefallenen Spielzeit als Massenets Werther brillieren sollen – bitte unbedingt nachholen!); Patrizia Häusermann glänzt mit ihrem wandlungsfähigen Mezzosopran als Muse; Marian Pop verleiht den vier Schurken eindrücklich baritonale Stimmgewalt und fällt überdies auch als ausgezeichneter Schauspieler auf; für Andrew Irwin in den Dienerrollen ist natürlich insbesondere der Frantz ein gefundenes gesangliches und darstellerisches Fressen; Marie-Christine Haase porträtiert ergreifend die sterbenskrank-tiefstverliebte Antonia, und Signe Heiberg verleiht der stolzen Giulietta die nötige kühle Distanz. Eine außergewöhnliche Glanzleistung ist Victoria Kunzes Olympia, ganz besonders die große Koloraturarie, die nicht nur nichts (nichts!) zu wünschen übriglässt, sondern gar noch was draufsetzt.


Hoffmann und Muse


Das Stadttheater Bremerhaven markiert den dreifachen Neubeginn – Wiederaufnahme des lagebedingt ausgesetzten Spielbetriebs, neue Saison und neue Intendanz – mit einer Inszenierung von Les Contes d’Hoffmann, die die Umstände der voraufgegangenen rund anderthalb Jahre gewissermaßen zum Ursprung ihrer selbst erhebt: Hoffmann nämlich tut, wie ihm geheißen (Stay at home!), und bleibt daheim – die Kneipen, in denen er mutmaßlich sonst abhängt, sind ohnedies allesamt geschlossen; Lutters Weinstube bildet da keine Ausnahme. Auch das tristeste Grau-in-Grau-Zuhause aber kann man sich schöntrinken, und als sich der Vorhang hebt, hat Hoffmann, im graukarierten Schlafrock und mit Nachtmütze, genau das wohl schon nach Kräften getan: Gleich zehnfach bevölkert er im Vorspiel die Bühne, und diese halluzinierten Doubles sprechen ihm mit dem Glou-glou-Chor sicher kaum weniger aus der Seele als aus der Kehle. Die Muse (sie ist hier übrigens nur und immer die Muse, ganz ohne die Nicklausse-Fiktion) stößt, im grauen Hosenanzug und mit dito Flügelchen ausstaffiert, durchs Fenster zu der fidelen Gesellschaft. Einen Studentenaufmarsch wie bei Lutter kann es in Hoffmanns Wohnzimmer naturgemäß nicht geben; diese Nebenhandlung fehlt ganz, und weil der Schauplatz eben kein öffentlicher Ort ist, kann Rat Lindorf schwerlich einfach zur Tür hereinspazieren: Der – im Vorspiel namenlose – Widersacher betritt die Szene also aus einem Schrank heraus. Der Austausch von Verbalinjurien zwischen Hoffmann und ihm entfällt; nach dem Lied von Klein-Zack ist der Dichter melancholisch geworden: Er schlägt den halluzinierten Gestalten – zählen Muse und Widersacher womöglich gar auch dazu? – vor, von seinen drei Liebschaften zu erzählen, worin die Muse ihn bekräftigt und ihm, der es sich auf der Couch (!) bequem macht, Stift und Papier anreicht: Hoffmanns Erzählungen können beginnen – und damit wohl auch eine Schreibtherapie.


Olympia und Hoffmann


Die Bühne bleibt für den Olympia-Akt im Wesentlichen unverändert und wird lediglich durch sich öffnende Nischen und versetzbare Wandteile variiert; das gilt auch für die Folgeakte. Spalanzani ist ein eher jugendlicher Computer-Nerd, der seine „Tochter“ über einen Laptop bedient, mit dem diese durch zentimeterdicke Kabel verbunden ist; Cochenille assistiert und ist nicht zuletzt damit beschäftigt, Kabelsalat entweder zu vermeiden oder aber zu entwirren. Besagte Kabel machen es für die in einen an die Siebziger gemahnenden Look gekleideten Soirée-Gäste natürlich völlig offensichtlich, dass sie es mit nichts anderem als einem Automaten zu tun haben – nur Hoffmann fehlt wegen der von Coppélius erworbenen Brille der Durchblick, das zu erkennen. Olympias Arie aber entzückt nicht nur ihn aufs Höchste, sondern auch und vor allem das Publikum, denn sie gerät zu einem in jeder Hinsicht großartig dargebotenen Kabinett- und Bravourstück, das gar noch Variationen zu den diffizilen Koloraturen der Partitur aufweist; Szenenapplaus und Bravo-Rufe bleiben nicht aus. Vor der Rachsucht des sich mit Spalanzanis geplatztem Wechsel über 500 Francs betrogen sehenden Coppélius aber schützt ihre Sangeskunst sie nicht: Der Schurke wütet fürchterlich und wirft zum Aktschluss vor den Augen des entsetzten Hoffmann mit Olympias Gliedmaßen um sich.


Antonia und Hoffmann


Dass Antonia sehr krank ist, wird nicht nur dadurch augenfällig, dass sie in Nachthemd und Morgenmantel die Bühne betritt und ausgesprochen blass ist, sondern auch durch den Umstand, dass sie von einer frei – aber planvoll, wie sich zeigen wird – erfundenen Krankenpflegerin umsorgt wird. Anders als im Libretto sammelt Vater Crespel zwar keine Geigen, spielt und besitzt aber ein solches Instrument, und zudem ist seine Geige offensichtlich mehr als das, nämlich ein Symbol für seine Tochter („les violons aussi ont une âme“/„auch Geigen haben eine Seele“): So gehen Dr. Miracles unerwünschte therapeutische Versuche mitnichten an Antonia vonstatten, sondern an ihres Vaters Geige, der er à la Voodoo mit metallischen Stäben zu Leibe rückt. Die Rolle des Frantz, primär dem comic relief verpflichtet, erfüllt ihre Funktion hier umso mehr, als sie weiblich aufgefasst wird und eine dank üppigstem Fatsuit insbesondere hinten sehr ausladende Hausdame mit Häubchen und Schürze ist. Ihre Selbsteinschätzung „la danse est à mon avantage“ (in den Übertiteln gewitzt wiedergegeben als „mit meinem Tanz kann ich überall punkten“) wirkt da umso verfehlter. Höhepunkt des Akts (und zugleich der ganzen Oper) ist das Terzett „Tu ne chanteras plus?“/„Du wirst nicht mehr singen?“, an dessen Ende Antonias Tod steht: Miracle kommt unversehens hinter einem im Hintergrund stehenden Klavier hervor und mesmerisiert alle, die der Szene beiwohnen: Antonia scheint ihm rückhaltlos ergeben, Frantz greift wie von Sinnen in die Tasten des Pianos, Crespel fiedelt besessen auf seiner Geige – und aus der erfundenen Krankenpflegerin spricht die Stimme der Mutter, die ja im Libretto stets nur als „le fantôme“ bezeichnet wird und hier, ganz ohne das ansonsten quasi obligatorische Bild oder sonst eine Präsenz der Mutter, tatsächlich zum nicht fassbaren Phantom wird. Am Schluss haucht die moribunde Antonia ihre Seele nicht wirklich aus, sondern Miracle zieht sie in einer unheimlichen Pantomime mit weit ausladenden Bewegungen aus ihr heraus.



Giulietta ist von Haus aus offenbar in erster Linie Fotomodell; zu Beginn des ihren Namen tragenden Aktes, nachdem die Barkarole – nicht ganz ohne hörbare Involvierung einer Pikkoloflöte – verklungen ist, posiert sie jedenfalls im Atelier eines Fotografen. Schlémil, ihr gegenwärtiges Gspusi und damit Hoffmanns Rivale, kommt von Anbeginn leichenblass, ja kreideweiß (im Wortsinne) und damit wie ein Menetekel seines der Erfüllung entgegengehenden eigenen Schicksals daher. Zu dem im Libretto hierfür vorgesehenen Degen-Duell aber lässt Hoffmann es gar nicht erst kommen: Er minimiert das eigene Risiko und erdrosselt den Nebenbuhler kurzerhand mit Giuliettas Halstuch, das er von Dapertutto erhält. Der hat es seinerseits bekanntlich auf Hoffmanns Spiegelbild abgesehen, ist bei diesem Unterfangen allerdings auf die Hilfe Giuliettas angewiesen, die er sich hier bemerkenswerterweise mit der sog. Spiegelarie „Scintille, diamant“/„Funkle, Diamant“ sichert (von der man allerdings weiß, dass sie apokryph und erst 1907 anlässlich einer Neuauflage in die Druckausgabe der Partitur gelangt ist). Hoffmann geht seines Spiegelbildes verlustig; der Chor kann ihn nur noch vor den möglichen Folgen seiner Bluttat warnen und ihm zur Flucht raten, als sich bereits ebenso anschaulich wie bedrohlich ein zur Schlinge geknüpfter Strick herabsenkt. Der Vorhang fällt über dem seines Spiegelbildes beraubten, als Liebhaber verschmähten und zum Mörder gewordenen Dichter, der sich in äußerster Verzweiflung am Boden wälzt, während Dapertutto, Giulietta und Pitichinaccio (Giuliettas wahre Liebe, den Hoffmann, anders als im Libretto, nicht auch noch tötet) sich über ihn beugen und ihn, sekundiert vom Chor, lauthals verlachen und verspotten.







Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen beim Stadttheater Bremerhaven und beim Fotografen Heiko Sandelmann. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Die Bühne leert sich; nur Protagonist, Widersacher und Muse bleiben. Dass Hoffmann sich nun den über ihm baumelnden Strick um den Hals legt, löst gewissermaßen das Nachspiel aus, das auf die letzte Klein-Zack-Strophe verzichtet und auch keinen Platz für Stella hat (die in Vor- wie Nachspiel nur in effigie vorkommt, nämlich als eine Art Herrenmagazin-Centerfold), sondern sich vielmehr äußerst effektvoll auf die ungeheuer emotionsgeladen vorgetragene sog. Apotheose beschränkt, den Kreis damit aber dennoch völlig schließt. Die Muse redet Hoffmann zu, dass er den Strick abnehmen, mithin am Leben bleiben und sich wieder auf sein Künstlertum zurückbesinnen möge: „Des cendres de ton cœur / Réchauffe ton génie! / … / On est grand par l’amour et plus grand par les pleurs!“ („Mit der Asche deines Herzens entfache dein Genie aufs Neue! … Groß ist man durch die Liebe, größer noch durch Tränen!“) – Hoffmann nimmt den Strick ab, setzt sich und beginnt zu schreiben.



Der Applaus war kräftig und ausdauernd, so um die vier bis fünf Minuten, auch einzelne Bravorufe (plus das begeisterte Indianergeheul der Dame neben mir – die mir außerdem im Foyer noch sagte, dass sie ihre gesamte Freundinnen-Schar in die nächsten Vorstellungen schicken werde). Das Theater war zwar ausverkauft, aber Corona-bedingt bei Weitem nicht voll besetzt, deshalb war die Beifallsintensität akustisch nicht so umwerfend wie bei einem voll besetzten Haus. Aber ich habe keine einzige negative Stimme gehört, genau wie in Hamburg, wo publikumsseitig ja auch alles eitel Sonnenschein war.

















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