»Hoffmann« als veredelte Neuauflage von Detmold 2007



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Besuchte Vorstellung 30. März 2023 (Premiere)






Regie


Kay Metzger

Dirigent


Panagiotis Papadopoulos

Ausstattung


Petra Mollérus

Chorleitung


Nikolaus Henseler

Version


Kaye-Keck

Sprache


Französisch




Hoffmann


Markus Francke

Muse


I Chiao Shih

Olympia, Antonia, Giulietta


Maryna Zubko

Widersacher


Dae-Hee-Shin









Fazit Ulm: In den Grundzügen eine Neuauflage des vom gleichen Regisseur 2007 in Detmold inszenierten »Hoffmann«, der allerdings in einigen Aspekten ergänzt und psychologisch vertieft worden war. Bühnenbild und Auftreten der zahlreichen weißen Mäuse entsprachen weitgehend dem Detmolder Vorgänger. Musikalisch befand sich der Ulmer »Hoffmann« auf einem deutlich höheren Niveau. Die Interpreten der Muse und des Hoffmann sangen gut, und Stella und der Widersacher waren ein Genuss anzuhören. (Detmold hatte die drei Sopranrollen auf drei Sängerinnen verteilt). Das Orchester spielte vorzüglich in ganz selten zu hörender Reinheit und Präzision, selbst im musikverwöhnten Deutschland bemerkenswert. Der Ulmer »Hoffmann« wurde ohne auswärtige Gäste vom permanenten Ensemble des Ulmer Theaters bestritten. Auch der Regisseur, gleichzeitig Intendant, stammte ebenfalls aus dem Haus. Das Publikum war angetan und spendete acht Minuten Premierenapplaus.



Das Ulmer Theater ist ein wuchtiger und unverwechselbarer Neubau mitten in der Stadt, zwischen Münster und Hauptbahnhof, und erinnert in seinen Umrissen an futuristische Architektur. Es wurde 1969 eröffnet und bietet 815 Besuchern Platz. Der Zuschauerraum ist nach modernen Richtlinien gebaut: breite Bühne (mit Drehbühne), deutlich ansteigendes Parkett und darüber ein breiter Rang, so dass jeder gut sieht und hört. Der Innenraum ist mit dunklem Holz gestaltet. Der Blick richtet sich also automatisch auf die helle Bühne. Die Zusammenarbeit mit der Presseabteilung war freundlich und problemlos, ganz anders als zwei Wochen davor mit der Mailänder Scala. Die Adresse des von der Stadt betriebenen Theaters lautet: Herbert-von-Karajan-Platz 1, denn der Maestro wirkte einst in Ulm als GMD, bevor er weltberühmt wurde. Im Foyer steht eine kleine Bronzebüste von ihm.


Dass die Corona-Pandemie noch nicht vorbei ist, sah man an den vielen Lücken im Zuschauerraum: Nur ca. zwei Drittel der Plätze waren belegt; leider die am wenigsten besuchte Premiere, die ich je erlebte. Ulmer Zuschauer sagten mir, dass dies nicht an Hoffmanns Erzählungen lag, sondern dass vorhergehende Premieren auch nicht besser besucht waren. Schade. Im Orchestergraben zählte ich zwei Kontrabässe und drei Celli, außerdem eine ganz selten zu sehende Kontrabassposaune, die mit ihren langen Rohren auf dem Boden aufgestützt wird. Im gut gemachten Programmheft wird auch auf den Zusammenhang zwischen Rausch und Kreativität eingegangen.



Vor der Vorstellung sollte eine Videoeinführung stattfinden, doch die funktionierte nicht. Nach einer Minute brach der Film immer wieder ab und begann dann von vorne. Jemand kam, drehte aber nur die Lautstärke hoch. Nach der fünften Wiederholung gingen die Leute, und ich bot ihnen an, an einem ruhigen Ort in der Galerie eine Einführung in die Oper zu improvisieren. Ich wurde gerade mit dem Finale fertig, als der erste Gong zur Premiere rief.



Ich muss vorausschicken, dass ich schon 2007 einen von Kay Metzger inszenierten »Hoffmann« in Detmold gesehen hatte. Damals befand ich mich noch am Anfang meiner Hoffmannie, und Detmold war meine siebte Station gewesen. Dieser Detmolder Hoffmann sagte mir damals wenig zu, denn in seiner Eindimensionalität reduzierte er den Dichter (und Komponisten, Zeichner und Juristen) auf dessen angeblichen Alkoholismus. Den halte ich für ein übertriebenes Gerücht, denn als Säufer hätte sich E.T.A. Hoffmann nicht als liberaler Richter am preußischen Kammergericht, entsprechend einem heutigen Oberlandesgericht, halten können. Unbenommen, dass E.T.A. Hoffmann Gourmet war und auch einem guten Tropfen zusprach. Eine andere eindimensionale Inszenierung sah ich 2008 in Genf, wo sich alles nur um Sex drehte und viel nackte Haut zu sehen war.



Als die zu schnell gespielten Auftaktakkorde erklangen und der Vorhang aufging, lief eine weiße Maus von links nach rechts über die Bühne, auf der zahlreiche leere grüne Flaschen standen. Herrjemine, schoss es mir durch den Kopf: Nach 16 Jahren ein Remake des platten Detmolder »Hoffmann«? Doch gemach, Vieles entwickelte sich besser als befürchtet.


An einem Flügel,saß ein ziemlich betrunken wirkender Mann, der etwas schrieb. Er war grellbunt gekleidet mit knallroten Hosenträgern, wie ein Zirkusclown. Der Chor hinter ihm war als weiße Mäuse gestylt. Mit ihm trat seine identisch gekleidete Muse auf. Das hatten wir schon öfter, u.a. an der hochwohllöblichen Bayerischen Staatsoper. Die Muse setzte sich zum Hoffmann an die Klaviatur zum vierhändigen Spiel. Naja. Sie gab Hoffmann zu trinken, und der schrieb eifrig weiter. Eine stumme Stella in rotem Tüllkleid kam vorbei und nahm Hoffmann die Flasche weg. Von denen prangten ca. 20 auf der Bühne, alle leer.


Die nächste Überraschung: Auch Stadtrat Lindorf trat genauso gekleidet wie Hoffmann und die Muse auf. Das war neu. Hoffmann und seinen Widersacher in gleicher Kleidung hatte ich noch nicht gesehen, und alle drei schon gleich gar nicht. Hmm. Was könnte die Regie damit beabsichtigt haben? Ich spekuliere mal:



Wir halten uns für gemeinhin für einheitliche und rational denkende und handelnde Wesen. Weit gefehlt. Viele von uns sind multiple Persönlichkeiten, die sich jeweils an die Situation anpassen. Und Sigmund Freud hatte uns in Es. Ich und Überich eingeteilt. Sollte die Regie an Freud gedacht haben? Hoffmann als Ich, die Muse als Überich, und den Widersacher als das dunkel-dämonische Es, das uns im Leben so viel Kummer macht und üblicherweise als Gefühlswelt verklärt wird?



Ein wunderschöner voller und kultivierter Bassbariton erklang, als sich Lindorf vorstellte. Hoffmanns Freunde waren alle als weiße Mäuse mit Schwänzen gestylt. Na gut, sie singen ja Trinklieder mit ihm. Als Hoffmann den Kleinzaches anhob, sah er sich dazu im Spiegel, den ihm Lindorf vorhielt. Das war eine gute Idee, denn der von seiner angebeteten Stella verlassene Dichter musste sich wie ein kleiner hässlicher Zwerg vorkommen. Punkt für Ulm. Als Hoffmann zu Stella überging, erschien wieder die rot gekleidete Stella. Für den mit angenehmem Tenor gesungenen Kleinzaches gab es den verdienten und wichtigen ersten Applaus.


Dann begann der Olympia-Akt. Wie in Detmold hatte sich die Zahl der leeren Flaschen zunehmend erhöht. E.T.A. Hoffmann wäre not amused. Auch Spalanzani war nun als weiße Maus definiert, denn hinten an ihm hing ein Schwänzchen, allerdings trug er keine Mausmaske am Kopf, ebenso Coppelius. Als die Muse die Vogelarie sang, mimte die Olympia = Stella dazu. Das macht Sinn. Und Hoffmann verliebte sich sofort in die Olympia.




Für das Terzett trois ducats gab es den verdienten Applaus. In Ulm wurde wirklich ausgezeichnet gesungen und musiziert. Alle Gäste des Spalanzani, also die Pariser Schickeria, waren ebenfalls als weiße Mäuse mit Gesichtsmaske gestylt, wie es schon in Detmold war. Nun hörten wir zum ersten Mal die überragende Gesangskunst der Olympia, die kräftig beklatscht wurde. Brava-Rufe belohnten sie. Immer mal wieder erschien die stumme Stella, die identisch wie Olympia gekleidet war. Hoffmann musste leiden, als Olympia mit Coppelius fremdging. Und der erschlug sie schließlich, Hoffmann und Spalanzani stritten heftig, denn Hoffmann musste erfahren, dass er hereingelegt worden war.


Die zerstörte Olympia lag noch auf der Bühne, als wir uns schon im Antonia-Akt befanden. Auch Vater Krespel war mit einem Mäuseschwanz verziert. Die Zahl der leeren Flaschen hatte sich erneut gesteigert. Kennen wir schon. Einen lebhaften Franz, auch mit Mäuseschwanz, musste es geben, und zwar in voller Länge. Die Dramaturgie hatte gut aufgepasst: Franz beklagte seinen Mangel an Technik. Applaus für ihn.

Und dann erfreute Niklaus mit der Geigenarie, die leider nur kurz beklatscht wurde. Freudige Begrüßung Antonia – Hoffmann. Zu den Duetten Hoffmann – Antonia erschien wieder die immer identisch mit Hoffmanns Geliebten in Rot gekleidete stumme Stella. Niklaus applaudierte zu den Duetten der beiden Verliebten. Wie so oft entstanden im Antonia-Akt Längen, die durch etwas mehr straffe Lebhaftigkeit verhindert werden könnten.


Zur Pseudodiagnose des Doktor Mirakel hatte sich der nur einen weißen Arztkittel übergezogen. Besonders viel Dämonie strahlte er nicht aus. In den drei Zentralakten stand immer ein Flügel auf der Bühne. In diesem Akt war er ziemlich klein. Aus der Innenseite seines Deckels dräute ein Totenkopf. Ein Bett wie in Detmold durfte nicht fehlen. Neu war, dass ein großer Sarg auf der Bühne stand, den die Drehbühne nach vorne brachte. Sonst wurde sie selten verwendet. In dem begann es zu singen, und Niklaus stieg heraus und sang die Mutter zum Terzett, wie immer der musikalische Höhepunkt dieser Oper, wunderbar gesungen und begleitet.



Dann stieg die Mutter aus dem Sarg und das raffinierte Terzett wurde mit einem lebhaften Mirakel zu Ende gesungen. Antonia sang sich bei ihrem Vater Krespel zu Tode und verschwand im Sarg. Krespel ging auf Hoffmann los, den er für den Tod seiner Tochter verantwortlich machte. Und Pause.



Im Giulietta-Akt war der Flügel riesig geworden und wurde von den omnipäsenten weißen Mäusen bevölkert. Unter dem riesigen Flügel standen Wagenladungen von Weinflaschen. Niklaus und Giulietta standen zur Barkarole nebeneinander. Im Orchester spielte eine Piccoloflöte noch erträglich laut. Im Takt zur Barkarole senkte sich der Deckel des Flügels auf und ab.


Obwohl in Ulm die teure Kaye-Keck-Version gespielt wurde, in der die beiden Original-Diamantenarien Jacques Offenbachs enthalten sind, sang Daperutto die von fremder Hand in die Oper eingefügte Spiegelarie, die allerdings in selten zu hörender Perfektion, die natürlich gebührend beklatscht wurde. Schade, dass Jacques Offenbachs melodiöse und rhythmisch abwechslungsreichere Originalarie so selten zu hören ist.



Dann zerkratzte Dapertutto Giuliettas Gesicht mit einem Diamanten. Giulietta wandte ihre ganze Koketterie auf, als die das Preislied auf Liebe und Lust sang, wofür es natürlich gebührenden Applaus gab. Schlemihl und Pitichinaccio waren ebenfalls als Mäuse mit weißen Schwänzen gestylt. Das Duell Hoffmann – Schlemihl wurde eher tänzerisch dargestellt. Dann hatte ich den Eindruck, dass der Hoffmann eine Nummer sang, die man sonst von der Giulietta zu hören bekommt, in der auch Liebe und Lust verherrlicht werden.



Niklaus hatte den liebestrunkenen Hoffmann in der Hand und dirigierte ihn quasi als Regisseur. Giulietta betrauerte egriffen den Tod ihres geliebten Pitichinaccio. Hoffmann lag trunken auf dem Boden. Dann erhob er sich wieder und ging auf Stella los, indem er ihr aggressiv den Rest des Kleinzaches ins Gesicht sang. Stella ging beleidigt nach links ab, allerdings ohne Lindorf. Ein gewaltiges und beeindruckendes On est grand pa l´amour erklang und bildete ein erhebendes Finale. Hoffmann saß alleine schreibend am rechten Bühnenrand und zeigte so seine Zukunft als erfolgreicher Schriftsteller. Und Vorhang.



Spontaner Jubel aus dem Publikum, auch schon für den Chor. Alle die wirklich guten Solisten wurden beklatscht und bejubelt, und natürlich besonders der Widersacher und die überragende Stella. Verhaltener Applaus für das Regieteam, das aus dem Regisseur und der Ausstatterin bestand. Acht Minuten dauerte der Premierenapplaus, den einzelne Zuschauer stehend spendeten. Acht Minuten sind schon gehobener Durchschnitt.



Das Publikum war zur Premierenfeier eingeladen, auf der man interessante Gespräche mit Ensemblemitgliedern und Zuschauern führen konnte. Auch zwei Opernprofis aus München waren angereist.



Auf der nächtlichen Heimfahrt nach München diskutierten Opernfreund Herbert und ich die Bedeutung der omnipräsenten weißen Mäuse. Herbert meinte, dass sie die alkoholschwangere Wahnwelt Hoffmanns symbolisieren sollten, denn außer den drei identisch gekleideten Hauptpersonen Hoffmann, Niklaus und Widersacher sowie der roten Stella trugen alle anderen Personen Mäusekostüme. So lässt sich dieser Nagerzoo verstehen.





echte an den obigen Szenenfotos liegen beim Theater und beim Fotografen...... Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.






Links vorne Stella aus der Ukraine, hinter ihr Widersacher aus Südkorea, dann Muse aus Taiwan; mit Mikrofon Regisseur und Intendant, rechts von ihm Chorleiter und ganz rechts Dirigent aus Griechenland.












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