Essenzieller »Hoffmann« mit vorbildlichem Antonia-Akt in Umeå

www.norrlandsoperan.se

Besuchte Vorstellung 29. Oktober 2022 (Premiere)






Das Programmheft der Oper Umeå mit Autogrammen der Mitwirkenden

Regie, Kostüme und Bühnenbild


Carina Reich und Bogdan Szyber

Dirigent


Henrik Schaefer

Chorleitung


Anders Lundström

Version


Eigene Version

Sprache


Französisch




Hoffmann


Thorbjørn Gulbrandsøy

Muse


Amie Foon

Stella


Denise Beck

Widersacher


Fredrik Zetterström

Lutter und Krespel


Peter Kajlinger









Fazit Umeå: Ein »Hoffmann« am nördlichen Ende Europas, wie man ihn sich öfter zu sehen wünscht. Musikalisch und sängerisch Spitzenklasse, von der Interpretation her klassisch, erfreulicherweise ohne die leider sonst so häufigen Mätzchen und Verfremdungen, und besonders was den Antonia-Akt angeht, eine Meisterleistung der Regie und der Interpretin der Antonia, die auch die beiden anderen Sopranrollen gekonnt sang. Dazu ein vom Stimmcharakter idealer Hoffmann. Regie, Bühnenbild und Kostüme lagen in zwei Händen, und die beiden arbeiteten erfolgreich zusammen. Reich an hübschen Ideen wie Carina und wie Geschenke Gottes (= Bogdan). Besonders hervorzuheben ist auch die lebhafte und ausgefeilte Choreographie auf der Bühne. Eine Freude, diese Inszenierung erlebt zu haben.



Umeå liegt im mittleren Norden Schwedens, ca 600 km nördlich der Haupstadt Stockholms und nur 400 km vom Polarkreis entfernt. In dessen Norden im Winter die Sonne kaum mehr aufgeht. Am Tag der Premiere ging sie um 15:15 unter, Winterzeit um 14:15. Die Stadt ist nicht besonders alt und wird laufend ausgebaut. Sie wurde von Städteplanern am Reißbrett entworfen, autogerecht ausgebaut und nach dem Prinzip getrennten Wohnens, Arbeitens, Einkaufens und Verwaltens strukturiert. Ein historisch gewachsenes Stadtzentrum gibt es praktisch nicht, und die ausgedehnten Wohnviertel sind frei von Kneipen, Bars, Gaststätten. Schweden, die nach Deutschland kommen, sind immer baff, wie viele Ausgehmöglichkeiten es gibt.


Um so erfreulicher für die Umeåner, dass man bei der Planung der Stadt mit gegenwärtig gut 80.000 Einwohnern eine Oper eingeplant hat. Danach müssten sich Länder wie Frankreich, Großbritannien und nun auch Italien lange strecken, denn dort sind Opernhäuser dünn gesät. (Im schottischen Aberdeen, wo ich einst studierte, einer inzwischen reichen Stadt mit über 350.000 Einwohnern, gibt es zwar ein His Majesty´s Theatre, aber das wird nur gelegentlich für Gastspiele genützt). Ein Danke also an die schwedischen Stadtplaner, dass sie eine Oper in der Hauptstadt Norrlands einrichteten. Anders als in Norwegen, wo Opern erst in neuerer Zeit seit der Karriere Kirsten Flagstads in größerem Umfang gespielt werden, haben sie in Schweden eine lange Tradition. Die Königliche Oper in Schweden ist weltberühmt mit Sängern wie der schwedischen Nachtigall Jenny Lind (1820 – 1887), Jussi Björling und dem Weltstars Astrid Varnay und Birgit Nilsson. Auch Anne Sofie von Otter und Nina Stemme sind weltweit gefragt. Und Verdis Maskenball geht auf ein tragisches Ereignis in der Oper von Stockholm zurück. Ein »Hoffmann« wurde dort übrigens schon lange nicht mehr inszeniert.



Norrlands Opera liegt mitten in der Stadt und wurde 1974 eröffnet. Sie hat 500 Plätze in einem modernen Gebäude. Sie besteht hauptsächlich aus einem stark ansteigenden Parkett. Oben ist noch ein über die ganze Breite gezogener Balkon. Es gibt noch zwei weitere Spielstätten im Gebäude. Die Oper wird gemeinsam von der Stadt Umeå und der Region Västerbotten am Norden des Finnischen Meerbusens betrieben. Das Publikum war altersmäßig gut durchmischt. So viele junge Leute im Publikum können sich viele deutsche Stadttheater nur wünschen. Das mag auch daran liegen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung der Stadt aus Studenten der nordländischen Universität besteht.



Die Zusammenarbeit mit der Presseabteilung war freundlich und problemlos, was leider nicht immer der Fall ist. Siehe Nachbemerkung unten.** Das Haus war gut besetzt. Cirka 5 bis 10% der Plätze waren nicht verkauft. Soweit ich sah war ich der Einzige, der eine Maske trug. Im Orchestergraben zählte ich drei Kontrabässe und fünf Celli.



Vor Beginn der Oper gab es eine ungewöhnliche Einführung. Der Opernchef berichtete nicht wie sonst über E.T.A. Hoffmann und Jacques Offenbach und die Handlung der Oper, sondern interviewte die beiden Regisseure zu ihrer Arbeit an der Inszenierung. Wer die Oper nicht kannte, musste sich im gut gemachten und kostenlosen Programmheft über die Handlung informieren.


Der Dirigent wurde freundlich begrüßt, und dann ein Schock, als die Auftaktakkorde hektisch durchgehetzt erklangen. Maestoso wie von Jacques Offenbach gemeint geht anders. Doch danach gab es an der Orchesterbegleitung nichts mehr auszusetzen. Skandinavische Symphonieorcheorchester gehören zur absoluten Spitzenklasse, wie ich mich inzwischen an den Opern von Oslo, Nordfjord, Stockholm, Malmö und nun auch Umeå überzeugen konnte. Die Norrlandsopera unterhält ihr eigenes Orchester. Ich kenne mindestens zwei sogenannte Erste Adressen, die sich so ein ausgezeichnetes Orchester nur wünschen können.


Eine lebhafte Muse erschien auf der leeren Bühne und stellte sich ganz ohne Premierennervosität mit erfreulichem Gesang vor. Und schon gab es den wichtigen ersten Applaus. Erste Überraschung: Die Muse bzw. jetzt Niklaus war der Briefbote, der sich Stellas Liebesbotschaft von Lindorf abluchsen ließ. Macht ja auch Sinn, denn sie Muse soll Hoffmann von der zickigen Diva fernhalten. Den zweiten Apllaus gab es für die Vorstellung des Widersachers Lindorf, der in Umeå eine Art Minister war.



In Lutters Bar La Stella agierte und sang ein lebhaft choreographierter Chor. Bei Lutter gab es eine reich gefüllte Bar mit exquisiten und für Schweden schwer erhältlichen und beinahe unbezahlbaren Spirituosen. (In Schweden ist alles staatlich geregelt, und die Schweden halten sich auch dran) Hoffmann trat auf und überzeugte sofort mit einer luftigen und leichten Stimme. Ein lebhaft gemimter Kleinzaches folgte, mit Applaus belohnt, nachdem er ein sauberes hohes C draufgestzt hatte. 35 Minuten dauerte das Vorspiel bei Lutter, und es gab keine Längen.



Und schon waren wir bei Spalanzani im Olympia-Akt. Der betrieb eine Certified Cosmtic Surgery. Ob die Doppelbedeutung von certified beabsichtigt war? Denn im Englischen bedeutet certified in der Umgangssprache auch plem-plem. Auf einem Operationstisch lag eine papierene Frau, die umgebaut oder zusammengeschneidert werden sollte. Darüber hing ein spinnenartiger Operationsroboter., der auf die heruntergelassen wurde. Niklaus sang eine lebhafte Vogelarie, in der Hoffmann vor Olympia gewarnt wurde. Applaus gab es für Copelius und seine Vorstellung Je me nomme Coppelius. Dann bekam Hoffmann eine Brille für virtuelle Realität aufgesetzt.


Splanzanis Gäste kamen als OP-Schwestern, denen man große Hintern angeheftet hatte. Ein riesiger phallischer Lippenstift kam herein, aus dem eine üppige Olympia mit grotesken riesigen Brüsten und breiten gebärwilligen Hüften heraustrat. Ich musste an eine Tänzerin ine einem Western-Saloon denken. Superschnell und präzise sang der Chor das Lob auf Olympias Augen, und das noch dazu auf Französisch. Da musste man eifrig geübt haben. Eine gekonnte und präzise Koloraturarie folgte. Wenn sie schwächelte, wurde sie mit einer riesigen Spritze wieder auf Zack gebracht, beim zweiten Mal injizierte sie selbst. Natürlich gab es dafür den hochverdienten Applaus.



Als der Betrug an Hoffmann aufgeflogen war, zersörte sich Olympia selbst, indem sie die riesigen Brüste und die breiten Hüften abnahm. Überig blieb eine schlanke, unspektakuläre Frau. Spalanzani nahm dem Hoffmann die virtuelle Brille ab, und Olympia stellte sich wieder in den phallischen Lippenstift. Hoffmann wurde kräftig verlacht. Kräftiger Applaus für diesen Akt und Pause von 30 Minuten.


Dass Olympia sich selbst zerstörte, hatte ich noch nicht gesehen. Macht aber durchaus Sinn, denn sie ist ja ein Geschöpf des Professor Spalanzani und erfüllt dessen Auftrag, Hoffmann zu bezirzen.


Kräftiger Applaus begrüßte den Dirigenten. Antonia hauste in einem einfachen Zimmer mit großen Fenstern nach hinten, durch die vom Wind bewegte Äste zu sehen waren, die wohl ihre aufgewühlte Gefühlswelt sysmbolisieren sollten. Langspielplatten mit Sellas Stimme und ein Plattenspieler waren der einzige Schmuck. Nach der lebhaften Koloratur überraschte Antonia nun mit sensiblem und lyrischem Gesang. Was für eine Überraschung. Häufig, wenn eine Sopranistin alle drei Rollen singt, was in ungefähr einem Drittel oder Viertel aller Inszenierungen geschieht, bekommen die Sopranistinnen die Koloratur gut hin, denn entweder frau beherrscht sie oder sie lässt sie gleich ganz sein. Die Dramatik der Giulietta bekommen sie auch gut hin, denn laut und kräftig singen können auch die meisten. Aber leise, lyrisch und sensibel zu singen wie im Antonia-Akt angebracht,.schafft nicht jede. Und in Umeå gelang dies beispielhaft.



Für die Liebesduette Hoffmann – Antonia gab es mehrfachen Applaus. Diese beiden lyrischen Stimmen ergaben eine perfekte Symbiose für diese gefühlvollen Nummern. Die Äste hinter den Fesntern begannen sich heftiger zu bewegen, und Bilder der Mutter erschienen im Laub, und Antonia wurde von Gefühlen überwältigt, als sie ihe Mutter erkannte. Die war gestylt wie Renata Tebaldi. Dann hob sich das Zimmer, und die Mutter, bisher nur als schwarz-weiße Projektion zu sehen, erschien von grünem Laub umkränzt unter dem hochgehobenen Zimmer der Antonia.

Das Orchester begleitete ebenfalls sensibel zum nun folgenden musikalischen Höhepunkt mit drei schönen Stimmen zum Terzett Mutter – Mirakel – Antonia. Das Publikum wollte kräftig applaudieren, doch der Dirigent ließ weiterspielen. Und dann sang sich Antonia zu Tode. Dieser Antonia-Akt war der vermutlich sowohl vom dramaturgischen Duktus als auch von der musikalischen Gestaltung der beste, den ich je gesehen habe. Antonia-Akte können sich in die Länge ziehen, wenn die Regie die das tragische Geschehen störenden Teile im Akt belässt. Zum Beispiel kann der Auftritt des Franz vom tragischen Geschehen enpfindlich ablenken. In Umeå ließ man den Franz einfach weg, wie das nur ganz selten geschieht, und niemand vermisste ihn. Dadurch bekam dieser Akt eine dramatische Dichte, die ich sonst meist vermisse. Umeå hatte die Handlung gestrafft und auf das Wesentliche konzentriert. Von dieser Interpretation musste man einfach ergriffen sein. Und natürlich auch von der lyrischen und sensiblen Stimme der Antonia.

Zehn Minuten Sitzpause folgten, in denen zum Giulietta-Akt umgebaut wurde. Um zu zeigen, dass Schwedisch für uns gar nicht so schwer zu verstehen ist, auf den Übertiteln erschien der Text: Tio minuters sittande paus. Schwedisch steht dem Deutschen nicht so nahe wie das Niederländische, aber mit etwas linguistischer Fantasie kann man entziffern, worum es bei einem schwedischen Text geht.

Die Edelkurtisane Giulietta thronte auf einem riesigen Lotterbett, hinter ihr ein herzförmiger Spiegel, um sie herum zahlreiche neckisch gekleidete Erot:_*Innen aller Spielarten, welche die moderne Diversität so zu bieten hat, aber alles schwedisch-züchtig ohne nackte Busen und ähnliche Sauereien. Aus einer Pyramide aus Champagnerkelchen spudelte teures Getränk. Hauptmann und Zuhälter Dapertutto war als orientalischer Pascha in glänzender Montur mit einem diamantenbesetzten Kalpak gestylt. Erfreulicherweise hatte der Dirigent die Piccoloflöte aus der Begleitung zur Barkarole herausgenommen. So erlebten wir ein musikalisch erhebendes Duett der Muse und der nun dramatisch singenden Giulietta.

Dann sang Dapertutto die von Andreas Bloch für Monaco komponierte Spiegelarie und wurde mit Jubel applaudiert. Ein feuriges Duett, die Freude preisend Giulietta – Hoffmann folgte und wurde ebenfalls beklatscht. Niklaus warnte Hoffmann: Pass auf, du wirst hier deiner Seele beraubt, doch vergebens. Dann folgte das vermutlich ebenfalls von Andreas Bloch komponierte Sextett, das wie immer zu einem überwältigenden musikalischen Erlebnis und zu Recht beklatscht wurde.

Abweichend vom üblichen Libretto fand das Duell zwischen Pitichinaccio und Schlemihl statt, und Letzterer wurde umgebracht. So befand sich Giuliettas Schoßhündchen und Sklave im Besitz des Schlüssels, und der verliebte Hoffmann war wieder einmal der Betrogene und wurde kräftig verlacht.

Was ich bisher bei allen schwedischen »Hoffmann«-Inszenierungen vermisste, war eine Anspielung auf eine schwedische Besonderheit im Strafgesetz, dem sogenannten sexköpslagen oder Freierbestrafungsgesetz (brottsbalken 1998:408), nach dem Männer bestraft werden, die sich sexuelle Dienstleistungen von erwachsenen Frauen kaufen. Nach den in Schweden gültigen Strafgesetzen würde sich Hoffmann strafbar machen, sollte er gegen Entgelt die Gunst der Giulietta erwerben. Hoffmann hätte sich in Schweden auf jeden Fall strafbar gemacht, denn nach 1998:408 ist schon der Versuch strafbar.

Wer sich zu diesem einmaligen und umstrittenen Gesetz von 1999 informieren will, siehe den hier verlinkten Exkurs.

Dann verschwand in Sekunden die glitzernde Scheinwelt der Giulietta und Dapertuttos, und Hoffmann und seine Muse befanden sich alleine in der Kälte der leeren und nebligen Bühne. Lutters Bar wurde wieder zusammengebaut. Die Muse erklärte Hoffmann, dass alle drei Frauen Olympia, Antonia und Stella nur drei Repräsentationen der gleichen Frau seien, das Ewig Weibliche eben. Stella stand daneben und verstand gar nichts.



Dann stritten sich Hoffmann und die Muse heftig. Offensichtlich war Hoffmann noch nicht richtig aus seiner emotionalen Fantasiewelt in die Realität zurückgekehrt. Dann ging Hoffmann auf Stella zu, doch er zögerte. Soll ich wirklich? Die Dramaturgie beließ es bei einem offenen Ende. Hoffmann bekam weder Stella noch vereinte er sich zu einem Happy End mit seiner Muse. Und Vorhang, Oper aus.



Spontaner Jubel und hochverdienter kräftiger Applaus vom Publikum, das nach drei Minuten stehenden Applaus spendete. Auch das Regieteam wurde bejubelt. Nur fünf Minuten dauerte der Schlussapplaus, den man leicht auf das Doppelte hätte ausdehnen können, wenn man die Solisten öfter hätte einzeln vortreten lassen, so wie ich die begeisterte Stimmung im Publikum einschätzte.



Danach folgte eine allgemein zugängliche Premierenfeier, was in Schweden nicht die Regel ist. (In Malmö z.B. wurde ich nicht zur Premierenfeier zugelassen) Diese Premierenfeier war beispielhaft, denn Opernchef, Intendant und Regisseur beschränkten sich auf kurze Ansprachen und verzichteten darauf, jeweils eine ellenlange Suada über jeden Teilaspekt dieser Inszenierung abzusondern. Die weite und nicht billige Anreise nach Umeå war jeden Pfennig wert. Danke, verehrte Norrlandsopera, ihr habt mir ein unvergessliches Opernerlebnis beschert.





Die Regie


Stella und Hoffmann


Mutter und Widersacher


















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