Ein »Hoffmann« als aufregendes Spektakel

in Wuppertal


www.wuppertaler-buehnen.de

Besuchte Vorstellung 18. September 2016 (Premiere)







Regie und Bühne


Rahmenakte: Charles Edwards

Regie, Bühne, Kostüme


Olympia-Akt: Nigel Lowery

Regie


Antonia-Akt: Christopher Alden

Regie


Giulietta-Akt: Inga Levant

Dirigent


David Parry

Bühnenbild und Kostüme


Giulietta-Akt: Petra Korink

Kostüme


Rahmenakte und Antonia-Akt:

Doey Lüthe

Version


Kaye-Keck

Sprachen


Deutsch und Französisch




Hoffmann


Mickael Spadaccini

Muse


Kerstin Brix

Niklaus


Catriona Morison

Olympia, Antonia,

Giulietta, Stella


Sara Hershkowitz

Widersacher


Lucia Lucas
























Hoffmann und Muse/Dramaturgin


Stadträtin Lindorf


Fazit Wuppertal: Ein gewagtes Experiment mit vier verschiedenen Regisseur/inn/en, das den Bogen der möglichen »Hoffmann«-Interpretation kräftig spannte, aber keineswegs überspannte. Anderes als in Christoph Marthalers Madrider und Stuttgarter Verfremdung blieben die Wuppertaler Contes als solche immer erkennbar, und die einzelnen Episoden wurden sinngemäß wiedergegeben. Nach einer Idee des neuen Intendanten Berthold Schneider wurden vier Regisseure mit der Arbeit beauftragt. Vom Stil her erinnerte der Wuppertaler »Hoffmann« am ehesten an Stefan Herheims schillernde Inszenierung für die Bregenzer Festspiele 2015. Stimmlich überragte die Stella Sara Hershkowitz´, auch darstellerisch war sie erstklassig. Kreative Bühnenbilder und fantasievolle Kostüme. Es gab sieben Minuten Applaus, bei dem das Publikum nach drei Minuten stand. Der Wuppertaler »Hoffmann« gehört mit Barry Koskys Inszenierung an der Komischen Oper Berlin und Stefan Herheims Bregenzer Inszenierung zu den gegenwärtig avantgardistischen in Westeuropa. Die Wuppertaler Oper bietet unter www.oper-wuppertal.de/hoffmann Hintergründe zu dieser Inszenierung.


Premieren an Sonntagen mag ich im Prinzip nicht, denn ich muss wegen des frühen Beginns zur Anreise früh aufstehen oder zwei Hotelübernachtungen bezahlen. Außerdem sind an Montagen alle Museen geschlossen. So konnte ich in Wuppertal nicht einmal Friedrich Engels´ Vaterhaus besichtigen. Friedrich Engels´ Geburtshaus kann man nicht mehr besichtigen, denn es musste zur Niederschlagung des Hitler-Faschismus im 2. Weltkrieg zerstört werden. Direkt daneben steht das Wuppertaler Opernhaus, das ebenfalls zerstört werden musste, und schon 1956 im Stil der Nachkriegsästhetik neu aufgebaut war. Man gab ihm einen neuen, modernen Grundriss, und das war gut so: Das neue Opernhaus hat eine breite Bühne, ein stark ansteigendes Parkett, das nur gut 15 Reihen tief ist, darüber zwei Reihen von Rängen mit seitlichen Gondeln, so dass jeder Besucher gut sieht. 2006 bis 2009 wurde es umfassend renoviert.


Das Wuppertaler Opernhaus wurde weltbekannt, als Pina Bausch jahrzehntelang dort ihr revolutionäres Tanztheater präsentierte. Es firmiert auch heute noch an dieser Adresse. Das Hoffmann-Plakat an der Oper zeigte die vom Taifun verwüstete Stadt Tacloban auf den Phlippinen.


Das Theater war voll, das Publikum war – seltene Ausnahme in Deutschland – altersmäßig gut durchmischt, das Orchester spielte im Frack, und im Orchestergraben zählte ich drei Kontrabässe und vier Celli. Freundlicher Applaus begrüßte den Dirigenten.


Eine weißgekleidete Dame trat auf, stellte sich als die Dramaturgin vor und begrüßte die Stadträtin Lindorf. Sie nahm einen Schluck aus einer Flasche, der sich als Wasser erwies. Angeekelt spuckte sie das aus und besorgte sich Wein. Dieser Wein wirkte ziemlich schnell, und Stella, diese dumme Sau, wurde gerufen, ebenso der Inspizient. Unterbrochen wurde sie von atemberaubend schnell durchgehetzten Auftakten, für die Jacques Offenbach maestoso vorgesehen hatte. Eine spätere Diskussion mit dem Dirigenten über dieses Maestoso würgte der ab: „Das war ein Fehler Offenbachs.“ Aha. Vielleicht hören wir demnächst die Barkarole als zackigen Marsch.



Stella saß im Theater und hörte, wie die Stadträtin Lindorf Hoffmanns Brief vorlas – mit satter Baritonstimme. Diese lebhafte Einleitung bekam gleich den ersten Applaus, obwohl noch gar nicht gesungen worden war. Verbindungsstudenten in Wichs traten lärmend auf. Lebhafte Trinklieder erklangen. Die Dramaturgin, die sich als Hoffmanns Muse erweisen sollte, schleppte ihren Meister herein, der ziemlich high und verzweifelt wirkte. Die Dramaturgin wurde zur Muse, und nachdem man bisher deutsch gesprochen hatte, wurde nun französisch gesungen, als Hoffmann mit dem Klein-Zach begann.



Mickael Spadaccini hat eine frische, wohlklingende Stimme und tastete sich zu manchen seiner glanzvollen Töne mit einem glissando vor. Als er schwärmerisch zu Stella überging, wurde ein großes Lebendbild der Angebeteten projiziert. Stella freute sich durchaus über die Hymne an sie. Bei dieser inbrünstigen Anbetung Stellas kollabierte die Muse. Kräftiger Applaus für diesen Klein-Zach und Bravo-Rufe von den billigen Plätzen.




Links kniend Niklaus, Olympia, Spalanzani


Spalanzanis Labor befand sich zwar nicht in Shelleys Ingolstadt, aber in einer verwinkelten, düsteren alten Stadt. Leichen wurden herangeschleppt, denn der Wuppertaler Spalanzani setzte seine Olympia wie Frankenstein aus Leichenteilen zusammen. In Wuppertal hatte man, wie in früheren Versionen der Contes, Muse und Niklaus getrennt. Niklaus war in Schwarz gekleidet und erfreute gleich mit einer frischen, hellen Stimme. Für ihre Vogelarie bekam sie verdienten Applaus. Coppelius wirkte mit seinen Spock-Ohren wie eine Gestalt aus einem Frankenstein- oder Dracula-Film. Auch Cochenille, gestaltet wie der Klöckner von Nôtre Dame, trug zu dieser Atmosphäre bei. Das gemalte Bühnenbild bei Spalanzani erinnerte im Stil an die Jungen Wilden. Ich fühlte mich von den Kostümen und vom Ambiente in das Moulin Rouge zu Jacques Offenbachs Zeiten versetzt.


Olympia trug ein fleischfarbenes Ballettröckchen. Ungewöhnlich langsam und fast getragen sang der Chor das Lob auf Olympias Augen. Dann setzte Olympia mit glasklarer und silberheller Stimme zu ihrer Arie an. Gut, die Koloratur war legato, aber das ist bei einer Sängerin normal, die alle drei Rollen singt. Anfangs wirkte die ins Leben gestoßene Olympia noch unsicher, aber das sollte sich ändern. Nun wurde sie von Herren in Frack und Zylinder umschwärmt wie einst Léopolda. Bravourös brachte sie ihre Arie zun Ende, und es gab kräftigen Applaus.


Antonia


Als Coppelius entdeckte, dass er von Spalanzani betrogen worden war, sagte er völlig ohne Emphase: Ich werde jemanden töten. Hmm. Olympia wurde nun ziemlich renitent zu Spalanzani, aber zu Hoffmann schnurrte sie wie ein Kätzchen und zog ihn aus. Dann bekam Hoffmann in aller Öffentlichkeit einen geblasen, was ihn aber nicht lange freute, denn der Automat biß blutig zu. Nach Lübeck schon wieder eine blutige Unterhose. Und Olympia triumphierte. Doch nicht lange, denn der wütende Coppelius schleuderte sie zu Boden. Der entmannte Hoffmann wurde kräftig verlacht. Kräftiger Applaus für diesen Akt und erste Pause.


Nach der Pause waren noch alle da. Keine Lücken in den Reihen, wie das gelegentlich bei avantgardistischen Inszenierungen vorkommt. Das Bühnenbild bestand aus einem großen rechten Winkel, dessen Spitze nach hinten reichte. Dieser weiße Winkel war nach vorne offen. Über ihm bastelte Vater Krespel an einer Geige herum. Unter ihm war in altdeutscher Frakturschrift zu lesen: Dass nie ein Ton über Antoniens Lippen gehen solle. Antonia war weiß gekleidet. Eine weiße Engelsfigur wurde hereingezerrt, die gefesselt wurde.


Immer wenn Antonia sang, erschienen auf den Wänden des weißen Winkels wie ein Menetekel blutige Flecken, die immer mehr wurden. Für ihren schönen Gesang mit sensibler, heller Stimme bekam sie immer wieder Applaus. Zur Strafe für ihre Unbotmäßigkeit musste sie sich in die Ecke stellen.


Niklaus und Mutter


Dann sang der gefesselte Engel zu meiner Freude die Geigenarie. Applaus und Jubel. Mirakel brach durch die Wand wie Garou-Garou, war ganz in Schwarz in einen Krinolinenrock gekleidet und sprach im Falsett, wenn er nicht sang. Olympia wurde von Mirakel hypnotisiert. Hoffmann konnte sie nicht daran hindern, auf Mirakel zuzugehen, der sie dann seiner speziellen Behandlung unterzog. Antonias Konflikt zwischen Familie und Karriere wurde gut dargestellt. Mirakel rauchte nur gelangweilt dazu.


Mirakel befreite die Mutter von ihren Fesseln. Während des Terzetts zerriss Hoffmann seine Erzählungen. Diese Handlung lief nicht in die Richtung, die er sich wünschte. Die ganze Bühne war nun blutrot gefärbt. Krespel geigte zum Terzett, das eigentlich gar nicht nach seinem Willen stattfand. Dann verschwand Antonia im Hintergrund. Hoffmann zerriss seine letzten Texte, und Krespel zerschlug seine Geige.




Niklaus und Giulietta


Dieser Akt hatte ein paar Längen, wie das für einen Antonia-Akt nicht ungewöhnlich ist. Man hätte zum Beispiel den Franz streichen können. Eine besondere Rolle war ihm nicht gegeben worden. Der Applaus war eher verhalten. Und zweite Pause.


Für den Giulietta-Akt gewährte uns die russisch-israelische Regisseurin Inga Levant einen Blick in die bizarre Welt des Klinik-Sex und der Dominas. Ich kann nicht alles getreu beschreiben, da mir Detailkenntnisse dieser Spielart fehlen. Ich musste mich aus einschlägigen Internetseiten kundig machen. Auskunft aus erster Hand bekam ich nicht, hätte sie aber bekommen können. Ich rief eine Dame dieses Gewerbes an, wie viel es kosten würde, wenn sie mich theoretisch in einige Geheimnisse der Bizarrwelt einweihen würde, aber das Honorar für eine Stunde hätte die Kosten meines gesamten Ausflugs nach Wuppertal überstiegen. Man verzeihe mir also, wenn ich hier nicht alles korrekt beschreiben kann.


Auf der Bühne links stand ein gynäkologischer Stuhl, der in dieser Szene als wichtiges Instrument für spezielle Untersuchungen dient. Die Klinikatmosphäre wurde durch zahlreiche Operationsleuchten verstärkt, die über der Bühne schwebten. Dapertutto war als Nonne gekleidet. Die Barkarole wurde nur gespielt. Danach wurde sie doch noch gesungen. Leider kreischte dazu eine laute Piccoloflöte, die fast so laut war, wie die beiden Sängerinnen, die brav wie Blumenmädchen gekleidet waren. Hoffmann wurde passend dazu als eine Art Hippie-Abenteurer präsentiert.


Giulietta, Dapertutto und Hoffmann


Die Verlegung des Giulietta-Aktes in ein Bizarr-Studio war nicht so abwegig, wie manche meinten. Im Libretto ist diese Richtung durchaus vorgegeben. Giulietta ist dem Dappertutto hörig, und sie wiederum hält sich zwei Sklaven, den Schlemihl und ihr Schoßhündchen Pitichinaccio. Ein ähnliches Ambiente gab es schon in mehreren Inszenierungen, z.B. 2008 in Regensburg. De Wuppertaler Inszenierung nun ließ aber Detail- und Insiderkenntnisse dieser Szene erkennen.


Giulietta zog pötzlich ihr gedecktes Kleid aus und stand im knallroten Lack-Minikleid da. Das Blumenmädchen war zu energischen Bizarrlady mutiert. Aus der Nonne Dappertutto wurde ein Transvestit in schwarzem Korsett. Im Publikum befanden sich offensichtlich eine Reihe Bizarr-Fans, die das Treiben auf der Bühne amüsant fanden. Ein paar Plätze von mir entfernt stieß eine ältere Dame spitze Schreie des Entzückens aus, wenn wieder eine typische Aktion mit den einschlägigen Utensilien stattfand. Der Sklave Schlemihl trug eine Gasmaske. Mehrere Badewannen erinnerten mich an den Marat-Film. Oder sollten sie die Gondeln ersetzen?



Das Duell Hoffmann – Schlemihl fand mit Elektroschockern statt. Als Hoffmann ihm die Gasmaske wegnahm, erstickte er. Dann sang Hoffmann seine Ode an die Freude, für die es Applaus gab. Dann wurde auch Hoffmann von Giulietta traktiert, darauf mit Eiswürfeln abgekühlt. Anschließend sang er im Regen unter einer realen Dusche. Vor einem Spiegel erkannte er dann, was das gnadenlose Flittchen Giulietta aus ihm gemacht hatte. Schlemihl stand wieder auf. Der Akt endete unkonventionell mit homerischem Gelächter. Spärlicher Applaus.




Niklaus und Hoffmann


Dann erklang, schön gesungen, der selten zu hörende nostalgische à cappella Männerchor. Hoffmann erwachte aus seinen Fantasmagorien. Er stand alleine mit der Muse auf der Bühne und merkte, was ihm geschah. Er versuchte, die Bühne zu verlassen, doch die Türe war verschlossen. Das Drama war zu Ende.


Stella kam. Ihre erloschene Liebe zu Hoffmann flammte nicht mehr auf. Ohne große Begeisterung ging sie zu Stadträtin Lindorf. Hoffmann ließ aus einem Gettoblaster den Rest des Klein-Zach plärren. Dann holte er sich noch einen Schluck und wollte sich erdrosseln, doch die Muse hinderte ihn. Er wehrte sich, hatte aber keine Chance. Die Muse vernaschte den sich dagegen wehrenden Hoffmann und brach in einen Riesenorgasmus aus. Die Verwöhnung passte Hoffmann gar nicht, denn er erdrosselte die ihn dominierende Muse bzw. Dramaturgin, was er aber sogleich bereute.


Dann kam Nikaus als griechische Göttin und sang die Apotheose auf Hoffmann, Les cendres de ton coeur. Der gebrochene, aber lebende Hoffmann fand Trost bei seinem treuen Niklaus, dessen Beine er umfasste und seinen Kopf auf seinen Schoß legte. Mir fiel dazu Michelangelos Pietà ein, die ja von einigen Kunsthistorikern so gedeutet wird, dass sie nicht Jesus und Maria darstellt, sondern Jesus und dessen Geliebte Magdalena. Und mit diesem versöhnlichen (und korrekten) Ende war die Oper aus.

Die Veröffentlichung der auf dieser Seite verwendeten Fotografien erfolgt mit Genehmigung der Städtischen Wuppertaler Bühnen, bei welchen sämtliche Rechte für die Nutzung der Bilder liegen. Fotograf ist Jens Großmann. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Spontaner Jubel aus dem Publikum. Und Jubel natürlich für die Solisten. Den ersten bekam die Sängerin des Niklaus, die ihren ersten großen Auftritt nach der Opernschule feierte. Viel zu wenig Jubel bekam meines Erachtens die großartige Stella. Den lautesten Jubel erntete Hoffmann. Nach drei Minuten stand das Publikum. Der Premierenapplaus dauerte nur sieben Minuten. Er hätte viel länger dauern können, wenn man die Solisten häufiger alleine hätte vortreten lassen. Aber sie mussten sich immer in einer Reihe verbeugen. Das schätzt das Publikum weniger.



Nach der sonntäglichen Premiere veranstaltete die Oper Wuppertal eine Feier, die anfangs gut besucht war. Da viele Besucher am Montag wieder arbeiten mussten, dauerte sie verständlicherweise nicht besonders lange. Es enststanden einige Bilder, die sich aber nicht von meiner elendigen Digitalkamera (Pentax Optio) herunterholen lassen. Eines allerdings bekam dankenswerterweise von der großartigen Stella zugemailt, die sich mit einem begeisterten Premierenbesucher fotografieren ließ.




Courtesy Sara Hershkowitz



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