Solider »Hoffmann« als realistisches Fantasy-Märchen in Riga


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www.opera.lv





Besuchte Vorstellung 20. November 2024







Regie


Aik Karapetjan

Dirigent


Kaspars Ãdamson

Chorleitung


Aigars Meri

Bühne


Mikelis Fišers

Kostüme


Kristine Pasternaka

Version


Oeser

Sprache


Französisch




Hoffmann


Mickael Spadaccini

Muse


Laura Grecka

Olympia


Annija Kristiãna Ãdamsone

Antonia


Inna Klačko

Giulietta


Dana Bramane

Widersacher


Rihards Mačanovskis



Bilder der Inszenierung findet man auf der Internetseite der Oper Riga

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Fazit Riga: Ein rundum gelungener »Hoffmann« in einem schönen und gut organisierten Theater, wie man ihn sich häufiger zu sehen wünscht. Die Geschichte von Hoffmanns Erlebnissen und Phantasien wurde richtig und verständlich erzählt mit nur wenigen Abweichungen vom Libretto, die aber nicht den guten Gesamteindruck beeinträchtigten. Die Bühne war kreativ gestaltet, die Kostüme gelungen, und musikalisch gab es kaum etwas auszusetzen: Orchester und Gesang auf bestem europäischem Niveau. Da diese Inszenierung schon mehrmals gespielt worden war und das Theater voll besetzt war, scheint sich die Attraktivität dieser Inszenierung in Lettlands Hauptstadt herumgesprochen zu haben. Das Publikum ging gut mit, spendete aber seltener als an anderen Theatern Szenenapplaus. Der gut fünfminütige Schlussapplaus war stürmisch, und schon nach einer Minute verfiel das Publikum in rhythmisches Klatschen. Besonders erfreulich war das altersmäßig gut durchmischte Publikum, in dem die Frauen deutlich überwogen. Dieser »Hoffmann« wird in der Spielzeit 24/25 noch ein paar Mal aufgeführt. Hingehen und genießen. Die Zuammenarbeit mit der Presseabteilung war freundlich und problemlos. Das Programmheft war auf Lettisch und Englisch, ebenso die Übertitel. Ich wünsche dieser neuen Inszenierung der Oper von Riga noch viele Aufführungen.



Im schönen alten Theater von Riga hatte es 42 Jahre lang keinen »Hoffmann« gegeben. Es wurde also Zeit, nachdem Tartu in Eestland 2009 und Vilnius in Litauen 2023 »Hoffmänner« auf ihre Bühnen gebracht hatten. Und 1982 war das kleine Lettland (1,8 Millionen Einwohner) noch russisch besetzt.

Die Oper von Riga wurde 1887 eröffnet, als in der Stadt noch viele Deutsche wohnten. Architekt war Reinhold Schmaeling. Sie steht nur ein paar Schritte von der Altstadt entfernt und ist intelligent gebaut. Ich wohnte komfortabel und standesgemäß im Hotel Opera, das nur gut 200 Meter vom Theater entfernt liegt. Statt des Hufeisens, das Plätze mit schlechter Sicht aufweist, baute man in Riga eher ein halbrundes Amphitheater mit leicht ansteigendem Parkett, darüber drei Ränge. Innen ist die Oper reich verziert. Die Zuschauer sitzen auf eigenen Stühlen und nicht in starren Bankreihen. Über der Bühne prangen Reliefs von Goethe, Schiller, Shakespeare und Richard Wagner. Letzterer wirkte zwei Jahre lang in Riga als Kapellmeister am alten Theater in der Altstadt, das heute als Schauspielhaus dient. Zu Wagners Ehren heißt die Straße Riharda Vãgnera iela (= Straße).


Nun habe ich also in allen drei baltischen Ländern einen »Hoffmann« gesehen, und der in Riga gefiel mir gut. In Tartu/Eestland hatte man eine intelligente russische Inszenierung übernommen, in Vilnius/Litauen verlegte ein italienisches Regieteam diese Oper in eine Basketballhalle, und nun in Riga, der größten Stadt im Baltikum, hatte man die Rahmenakte in unsere Zeit verlegt und die drei Zentralakte als Fantasy-Märchen interpretiert.



Die Oper Riga, die einzige in Lettland (1,8 Millionen Einwohner) wird zu zwei Dritteln vom Staat finanziert, spielt fast jeden Tag, hat ein breites Repertoire und erfreut sich einer beeindruckenden Auslastung von 92%. Viele junge Leute im Publikum, und was bei uns selten zu sehen ist: Auch die Generation zwischen 30 und 45 war gut vertreten. Die Alten, die unsere deutschen Opernhäuser bevölkern, befanden sich eher in der Minderheit. Die Kartenpreise bewegen sich zwischen 10 und 45 Euro. Ein durchschnittliches Einkommen in Lettland bewegt sich um 1000 Euro netto.



Das Theater war voll, soweit ich sehen konnte, und im Orchestergraben zählte ich drei Kontrabässe und fünf Celli.



Die Oper begann mit einem Schock. Der junge Dirigent hetzte die Auftaktakkorde durch, als wäre sein letztes Stündlein gekommen-. Aber gegen Ende ließ er sie ritardando ausklingen. Auf der Bühne sahen wir ein modernes Wohnzimmer,.auf dessen Couch sich ein braun gekleideter Mann lümmelte, der immer mal wieder einen Schluck aus einer Flasche nahm. Laut Programmheft war er Kunstsammler. Eine neckische Muse in einem schwarzen Minikleid begleitete ihn. Ein Lindorf im Paletot trug eine Melone und einen langen Schirm, ganz der englische Gentleman.


Hoffmanns Freunde traten auf, alle identisch gekleidet wie Hoffmann und mit den gleichen Perücken auf dem Kopf. Auch Lutter sah so aus. Aber der krendenzte keinen Wein sondern brachte einen Pilz mit, der offensichtlich berauschende Substanzen enthielt. Solchermaßen inspiriert hob er zum Klein-Zaches an. Eine runde wohlklingende Tenorstimme bezauberte uns. Die Muse hatte sich inzwischen ein Katzenkostüm angelegt und miaute. Auch die Muse berauschte sich am Pilz. Die rezitativ dargestellten Auseinandersetzungen Hoffmann – Lindirf dauerten viel zu lange, so dass der erste Rahmenakt mit 40 Minuten deutlich überzogen war. Leichter Applaus, als der Vorhang fiel.


Mit dem Olympia-Akt verließen wir die reale Welt und begaben uns in eine Art Zauberreich des Spalanzani, der in einer Art kultischem Tempel residierte. Die Muse warnte Hoffmann mit flüssiger und eleganter Stimme und ihrer Vogel- oder Gockel-Arie vor der Olympia. In der Bühnenmitte lagerte ein großes Ei, eine Art Fruchtblase die Olympia enthielt. Spalanzanis Gäste waren ebenfalls identisch gekleidet und sangen lebhaft und akzentuiert. Spalanzani war als Contergankind mit kurzen Ärmchen gestylt. Was das nun wieder bedeuten sollte? Coppelius drängte Hoffmann die Zaubenrbrille auf, und auch Spalanzanis Gäste trugen solche.



Die ihrer Fruchtblase entstiegene Olympia wies noch blutige Bandagen und Nähte auf ihrer Haut aus ihrer Herstellung auf, so dass man an Professor Frankensteins Monster denken musste. Mit viel Legato begeisterte sie das Publikum, das nach der Arie heftigen Applaus mit Jubel spendete. Das Orchester hatte spieluhrenhaft begleitet. Als Olympia schwächelte, peppte sie Spalanzani mit Spritzen auf.



Ein lauter Tusch kündigte Unheil an, denn Coppelius hatte den Betrug an sich entdeckt. Coppelius zerstörte den Automaten in den Kulissen, und die Musekatze kam mit einem Stück ihres Armes herein. Kräftiger Applaus für diesen Akt und Pause.


Antonia trug ein langes schwarzes Kleid und war eher wie eine preußische Gouvernante oder Pastorengattin als wie ein lebenslustiges 20jähriges Mädchen gekleidet. Sie befand sich in einem kathedralenähnlichen Bau mit hohen Rundbögen und gotischen Rosetten. Eher dramatisch als lyrisch trauerte sie um den verlorenene Hoffmann. Ein übermächtiger Vater mit breit ausgestellen Schultern dominierte sie. Auch wieder so eine bizarre Gestalt aus der Fantasy-Welt.



Ein offensichtlich notwendiger Franz verlängerte diese ohnehin lange Inszenierung noch mehr. Aber Shakespeare hat in seinen Dramen auch oft Nebenhandlungen, die mit der eigentlichen Botschaft nichts zu tun haben. Das Publikum bestrafte diese unnötige Einlage mit eisigem Schweigen. Dafür erfreute uns die Muse mit einer seelnvoll gesungenen Geigenarie in voller Länge. Danke dafür. Und nun klatschte das verständige Publikum.


Als sich Antonia und Hoffmann die Ehe versprachen, versteckte sich die kluge Muse in Trauer. Die Wiedersehensfreude Antonias mit Hoffmann fiel allerdings eher verhalten aus. Gut herausgestellt wurde, wie wichtig der Antonia der Gesang war. Vergeblich versuchte die Musekatze Hoffmann in die Realität zurückzuholen, doch er schickte sie schnöde weg. Wie so oft wurde der Antonia-Akt zäh und langatmig durch die Rezitative zwischen Vater Krespel und dem falschen Doktor Mirakel, der nicht besonders dämonisch wirkte. Antonias riesiger Schatten erschien im Hintergrund, als sie von Mirakel zum lauten Schrei verleitet worden war. Gut dargestellt wurde, wie sich Antonia gegen die Einflüsterungen des Mirakel wehrte: Wer rettet mich vor mir selbst und meinen innreren Dämonen? Sigmund Freud, zur Permiere dieser Oper gerade mal 25 Jahre alt, hätte an dieser Darstellung von Antonias Unbewusstem seine Freude gehabt.


Die Mutter erschien auch als riesiger Schatten, und ein hochdramatisches Terzett folgte, ein wahrer Ohrenschmaus. Und erfreulicherweise ließ uns der Dirigent den verdienten Applaus spenden. Antonia sang sich in den Armen ihres Vaters zu Tode; Applaus und zweite Pause.



Der Giulietta-Akt fand im kathedralenähnlichen Boudoir der Kurtisane statt, in dem keine Gondeln herumdümpelten. Der wasserstoffblonde Vamp Giulietta war in leuchtendes Rot mit Schlitz im Kleid gewandet. Erfreulicherweise hatte der Dirigent die Piccoloflöte bei der Begleitung der Barkarole weggelassen. Giulietta umgab sich mit einem Harem, und Dapertutto war wieder der Gentleman mit Melone und Regenschirm. (In Venedig kann es sehr heftig regnen.) Die Beleuchtung zauberte eine besonders variationsreiche Atmosphäre auf die Bühne.



Zur klassischen Spigelarie des Andreas Bloch bekam Giulietta von Dapertutto einen Diamantring an den Finger gesteckt. (Jacques Offenbachs Originalmelodien der Diamantenarie sind in der Oeser-Version nicht enhalten, da sie damals noch nicht entdeckt worden waren.) Und wieder gab es für diesen zuverlässigen Bringer keinen Applaus. Saßen da im Publikum lauter kundige Offenbach-Experten, die von fremder Hand eingefügte Nummern missbilligten?)



Hoffmann unterwarf sich völlig der umwerfenden Giulietta, und sinnliche Duette der beiden folgten. Pitichinaccio und Schlemihl, die beiden Schoßhündchen der Kurtisane, wurden eifersüchtig und argwöhnten, ihre Herrin sei mehr an Hoffmann als an ihnen interessiert. Die beiden waren passend zu Giulietta in gleichem Rot und als Hermaphroditen gekleidet. (Heute würde man wohl Crossdresser oder Transen sagen)



Dann folgte ein gewaltiges Sextett des Andreas Bloch, das immer beeindruckt, aber leider nicht von Jacques Offenbach stammt. Das wurde nun aber beklatscht. Wäre es von Jacques Offenbach, würde es rhythmisch abwechlungsreicher klingen. Andreas Bloch benützte nur gleichförmige Grundmuster. Das Duell nahm in Riga einen ungewohnten Ausgang: Beim Kampf um den Schüssel zu Giuliettas Boudoir erstach Schlemihl den Hoffmann. Kann man so interpretieren..



Zum Finale befanden wir uns wieder im Wohnzimmer des Kunstsammlers Hoffmann. Die Muse, nun wieder im schwarzen Kleid, konfrontierte Hoffmann, warum er nicht auf sie gehört habe. Stella erschien, doch Hoffmann lag erledigt am Boden und erkannte sie nicht .




Mit ihrem betörenden Gesang erweckte die Muse Hoffmann wieder zum Leben. Auch Lindorf erschien wieder und stellte sich neben seine Stella. Ein herzerwärmendes Bild zeigte zwei glücklich vereinte händchenhaltende Paare: Hoffmann & Muse, Lindorf & Stella, als die Apotheose auf Hoffmann erklang. Bei diesem rührenden Happy End blieb kein Auge trocken.


Kräftiger Applaus und Jubel, als der Vorhang fiel. Schon nach einer Minute begann das Publikum rhythmisch zu klatschen und tat das über fünf Minuten lang. Am meisten Applaus heimsten Olympia und Hoffmann ein. Wie in den osteuropäischen Ländern üblich bekamen die Solisten Blumen überreicht. Und der eingesprungene Hoffmann bedankte sich extra bei der Souffleuse, die ihn sicher und ohne erkennbare Patzer durch die ihm unbekannte Inszenierung geleitet hatte.

Links der belgische Bass Jean-Marie Lenaerts, rechts der erfolgreich eingesprungene belgisch-italienische Tenor und Retter des Abends Mickael Spadaccini


Am Bühneneingang warteten zwei Freunde des Hoffmann-Sängers Mickael Spadaccini, und wir ließen diesen gelungenen Opernabend in einem Kellerlokal der Altstadt von Riga ausklingen. Mickael hatte am Abend vorher noch in Tiflis/Georgien gesungen und war in den frühen Morgenstunden über Istanbul nach Riga geflogen.






Touristisches



Lettland ist der mittlere der drei baltischen Staaten, nördlich liegt das kleine Eestland mit ca. 1,2 Millionen Einwohnern, und südlich das größere Litauen mit ca. 2,8 Millionen. Lettland hat ca. 1,8 Millionen Bewohner und ist wie Eestland überwiegend protestantisch. Alle drei baltischen Länder wurden abwechselnd von den Großmächten Schweden, Polen, Deutschland und Russland besetzt, am längsten und nachhaltigsten von den Russen und Sowjets. Während Riga noch um die Mitte des 19. Jh. überwiegend von Deutschen bewohnt wurde, besiedelte Stalin das Land während der sowjetisch/russichen Okkupation mit Russen, die heute noch ein Viertel der Bevölkerung ausmachen und nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen. Seit 1991 ist Lettland unabhängig und erinnert mit einem riesigen Denkmal nahe an der Oper an die Befreiung vom russisch/sowjetischen Joch.



Riga ist mit 600.000 Einwohnern die größte der drei Haupstädte, Tallin die kleinste. Aber das kleine Eestland betreibt zwei Opernhäuser (Tallinn und Tartu), die beiden anderen nur jeweils eines. Riga ist eine beeindruckende Großstadt mit wuchtigen Gebäuden und viel Jugendstil. Ich war zum letzten Mal 1995 dort, als noch überall der Sowjetmief dominierte. Heute sind die Reste des russichen Imperialismus nur mehr vereinzelt sichtbar. Alle drei baltischen Länder haben den Euro und sind Mitglieder der NATO. Die Eesten sprechen eine dem Finnischen nahe verwandte Sprache, die Letten und Litauer trennten sich sprachlich vor langer Zeit, sind aber urverwandt miteinander. Man versteht sich aber gegenseitig nicht mehr. Im Lettischen und Litauischen enden die meisten Hauptwörter und Namen auf -s. Im Litauischen ist z.B. der Lift = liftas. Die klügste Rechtschreibung pflegen die Eesten, die ohne Sonderzeichen auskommen und ganz einfache Schriftregeln haben: Kurze Vokale werden mit einem Buchstaben geschrieben, lange mit zwei: ooper. Doppelkonsonanten werden nur geschrieben, wenn sie auch gesprochen werden: Tallinn. Das Lettische benützt eine komplizierte dem Slawischen entlehnte Rechtschreibung mit vielen Sonderzeichen. Manche Sprachforscher meinen, Lettisch und Litauisch.seien die ältesten indogermanischen Sprachen, und die slawischen Sprachen haben sich besonders aus dem Litauischen entwickelt. Dafür gibt es zahlreiche Indizien. Im Lettischen bezeichnet wie in den slawischen Sprachen ein -a am Ende eines Namenwortes oft den Genitiv: Riharda Vãgnera iela = Straße des Richard Wagner.



Alle drei baltischen Länder sind technisch und digital weit besser entwickelt als Deutschland, für das laut berufenem Munde Angela Merkels das Internet seit 2013 noch Neuland ist. Auch sonst ist das Baltikum modern und hat sich in den drei Jahrzehnten seit der Befreiung von den Russen erstaunlich schnell entwickelt, etwas im Vergleich zu Bulgarien. Die Menschen sind freundlich und entspannt und geben gerne Auskunft an Fremde. Alle Jüngeren unter 40 können Englisch, die Älteren Russisch. Die Preise liegen etwas unter deutschem Niveau, aber nicht viel. Günstig ist der ÖPNV. Eine Busfahrt zum Flughafen kostet in Vilnius 1,00 und in Riga 1,50-. Die Demokratie ist in allen drei baltischen Staaten fest verankert. Es gibt keine Russlandlakajen wie in Ungarn und der Slowakei, wie 16 Jahre lang in der BRD und keine Demokratiefeinde wie die Kaczynskis in Polen. .




















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