Dieser Text basiert auf einem Artikel
für die PRO BAHN Post August 2017.
Bearbeitungsstand: 19.7.2017

 
 

 

Bahnausbau viel zu spät

Zum Monatswechsel Juni/Juli gingen erste Einzelheiten zum sogenannten Drei-Phasen-Programm von Verkehrsminister Herrmann durch die Presse (www.merkur.de/‑8431918.html, www.sz.de/1.3569861). Dieses Programm soll festlegen, welche Bahnausbauten noch vor Inbetriebnahme der zweiten Münchner S‑Bahn-Stammstrecke realisiert werden, welche zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme fertig sein müssen, und welche Maßnahmen im Zeitablauf hinter die zweite Stammstrecke rücken, teilweise noch ohne jede Idee für Planung und Bau.

Wie zu erwarten war, wird es spät. Angesichts der Verkehrsprobleme im Raum München zu spät. Diese Verkehrsprobleme erzeugen wirtschaftliche und gesundheitliche Schäden, sie verunstalten den Lebensraum hunderttausender Menschen. Man könnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Dringlichkeit in den Köpfen vieler Politiker nicht angekommen ist.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die entscheidenden Verzögerungen sind in der Vergangenheit entstanden. 16 Jahre lang hat man in München über die zweite Stammstrecke gestritten und diskutiert. Die ganze Zeit über haben die Verantwortlichen sich selbst und den Bürgern in die Tasche gelogen, und die Realisierung jeweils in einigen Jahren und zu einem Bruchteil der heute veranschlagten Kosten in Aussicht gestellt. Mit diesem deutlich zu engem Horizont war es zu keinem Zeitpunkt nötig, zu sagen: "das dauert zu lange, bis dahin müssen andere Projekte angegangen werden". Damit wurden dringend notwendige Ausbauten im S‑Bahn-Netz und darüber hinaus auf die lange Bank geschoben. Und jetzt steht man mit einer langen Liste von Versäumnissen da.

Nicht nur beim Verkehr gilt: Schlechte Politik ist nicht alternativlos, aber für die, die sie machen, fast immer konsequenzenlos. Leute wie Otto Wiesheu oder Christian Ude ziehen sich aufs Altenteil zurück und genießen den Ruhestand, egal wie zögerlich oder verbohrt ihre Politik war, egal welche Ideen sie wegargumentiert oder ausgesessen haben. Das ist aber alles kein Grund für heute aktive Politiker es anders, es besser zu machen – die Handlungsmuster kehren immer wieder. Für die Bürger ist all dies leider nicht konsequenzenlos. Das geht im Fall schlechter Verkehrspolitik weit über die Fahrgäste hinaus, wie man aufgrund der Klima- und Feinstaubdiskussion deutlich zu spüren bekommt. Andererseits wurde immer wieder politische Energie dafür verpulvert, sinnvolle Projekte wie die Tram durch den Englischen Garten, die Wasserburger Altstadtbahn oder die Tram-Westtangente zu torpedieren.

Und da wird noch gefragt, was läuft falsch in der Stadt, in der Region, im Land? Bezogen auf die Verkehrspolitik ist es offensichtlich: Mutlosigkeit, Zögerlichkeit und Populismus regieren. Alle klagen über die Verkehrsprobleme, viele mahnen eine Verkehrswende an, gewählt wird aber höchstens das kleinere Übel oder einfach das, was man schon immer gewählt hat. Politisch mündet das dann wenig überraschend meist in einem "weiter so". Wenn es gut läuft in der Demokratie ist Politik ein Spiegel des Willens der Bürger. Wenn es schlecht läuft, ist dieser Spiegel stumpf und blind, was zu einer Politik der Beliebigkeit führt, die niemandem weiterhilft, die schädliche Entwicklungen nicht aufhält oder gar nicht wahrnehmen will.

Auch Einzelprojekte zeigen das Problem: Bereits 2001 verkündete der damalige Verkehrsminister bei der S‑Bahn-Verlängerung nach Geretsried einen "Meilenstein"; 2010 sah ein anderer Verkehrsminister "Grünes Licht" für das Projekt. Jetzt haben wir 2017 und reden von einer Fertigstellung der Verlängerung nicht vor 2027 – Folgen einer Aneinanderreihung von Fehleinschätzungen und mutlosen Rückziehern.

PRO BAHN hat bereits vor mehr als 25 Jahren eine S‑Bahn-Verlängerung nach Geretsried entsprechend der heute geplanten Trasse vorgeschlagen. Ebenfalls Ende der 1980er-Jahre hatte PRO BAHN eindringlich darauf hingewiesen, dass das Münchner S‑Bahn-System in Probleme hineinläuft. Damals und in den Folgejahren hielt man von offizieller Seite ein Handeln für nicht notwendig. Zehn Jahre später stellte PRO BAHN ein Stadtbahnsystem für den Großraum München vor – wo wären wir heute, wenn man nach 1997 angefangen hätte, Vorschläge aus diesem Konzept umzusetzen? Die damaligen Chancen wurden verschlafen und zerstört – durch irrationale Widerstände, durch Nichtstun, durch Abschieben in Institutionen und Gremien, die nicht für das Voranbringen von Ideen bekannt sind, sondern die Politik von ihrer Verantwortung entlasten sollen. Alles Strategien, die man auch heute noch kennt; ebenso das Auflegen irgendwelcher Ausbauprogramme, die nie zu einem Ende führen – egal ob sie nun 520‑Millionen-(D‑Mark‑)Programm oder Drei-Phasen-Programm heißen.

Ratlosigkeit macht sich breit – etwas, was Politiker natürlich nicht zugeben. Die Projektliste ist lang, die Planungskapazitäten sind immer noch viel zu unzureichend. Und insbesondere, wenn es um Bundeszuschüsse geht, ist selbst mit der Vorfinanzierung einzelner Projekte durch den Freistaat das jährlich zur Verfügung stehende Geld begrenzt. Falls also nicht irgendwoher eine ganz neue Idee kommt, bauen wir jetzt mindestens zehn Jahre an der zweiten Stammstrecke, und alles andere muss auf kleiner Flamme nebenher laufen oder wird zurückgestellt.

Über die Ideen für weitere Verkehrsprojekte, die man fast wöchentlich in der Zeitung liest, kann man dann vielleicht ab 2030 nachdenken – wenn bis dahin nicht wieder Gründe für eine längere Denkpause auftauchen. Die Verkehrsprobleme werden inzwischen aber nicht kleiner werden, sondern – wen wundert es – weiter zunehmen. Die Sichtweise des Verkehrsministers ist offensichtlich ein "hier stehe ich, ich kann nicht anders". Aber Verkehrsminister wechseln, Probleme bleiben, Projekte ziehen sich in die Länge. Ob unter dem Druck der Abgasdiskussion und drohender Fahrverbote für Dieselfahrzeuge wirklich ein Umdenken stattfindet, oder ob sich die Ankündigungspolitik zu neuen Höhen aufschwingt, muss man abwarten. Die Gründe, warum PRO BAHN weiter daran arbeiten muss, die schlimmsten Entgleisungen zu verhindern, und langfristig den grundsätzlichen Politikansatz bezüglich Verkehr zu ändern, bleiben jedenfalls noch lange bestehen.

Edmund Lauterbach

 

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