Dieser Text basiert auf einem Artikel
für die PRO BAHN Post November 2022.
Bearbeitungsstand: 19.10.2022

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S‑Bahn-Netz und zweite Stammstrecke
The Great Munich S‑Bahn-Desaster

Ende September trafen sich in München Ministerpräsident Söder und Verkehrs­minister Bernreiter mit DB-Chef Lutz. Thema war die zweite S‑Bahn-Stammstrecke und wie man das Desaster am besten verkauft. Da Bayern und die DB AG auf vielfältige Weise voneinander abhängig sind, durfte man natürlich nicht im Streit auseinander­gehen.

Neben einer Kosten­prognose von sieben Milliarden Euro (vielleicht auch 7,8 Mrd.) wurde als Termin für die Inbetrieb­nahme 2035 genannt, aber spätere Termine wie 2037 auch nicht ausgeschlossen. Man mag sich gar nicht ausmalen, was mit den zusätzlichen Milliarden im Bahnsektor möglich gewesen wäre, und was dies für künftige ÖPNV-Investitionen und die Bestellung von Schienen­verkehr bedeutet. Bei der Reaktivierung von Bahn­strecken ist damit zu rechnen, dass die bekannte Haltung Bayerns noch negativer wird als bisher.

Im Raum München muss die Aussicht auf weitere 13 oder 15 Jahre des fast alltäglichen S‑Bahn-Chaos für die Betroffenen wie ein Albtraum wirken. Gerade im Umland werden die Kfz-Zahlen weiter ungehindert wachsen, und jede Idee einer Verkehrswende zerstören. In der Region Stuttgart wird bereits für 2030 das Ziel der Reduzierung des motorisierten Individual­verkehrs verfolgt; für München werden die Zahlen bis mindestens 2040 weiter ansteigen. Das ist nicht nur ein Verlust an Lebens­qualität, sondern auch an Konkurrenz­fähigkeit.

Skizze zum Verlauf der zweiten Stammstrecke
Verlauf der zweiten Stammstrecke. Quelle: DB Netz AG

Außer einem externen Controlling durch den Freistaat wurden nach dem Gespräch zwischen Freistaat und DB-Chef einige Maßnahmen für das S‑Bahn-Netz vorgestellt, die zwar irgendwie als Ausgleich gedacht sind, über die aber zum Teil bereits seit sehr vielen Jahren diskutiert wird. So weht zum Beispiel der Geist des Ausbaus der Sendlinger Spange seit Jahr­zehnten über München und hat viele Verkehrs­minister überstanden.

Die Süddeutsche Zeitung hatte zuletzt im August von 28 "fest vorgesehenen" Maßnahmen im S‑Bahn-Bereich berichtet und sich dabei auf einen etwas visionären Fachartikel der Eisen­bahn­technischen Rundschau vom Mai 2021 bezogen. Ähnliche Versprechungen gab es in den letzten 20 Jahren von jedem der acht Vorgänger von Minister Bernreiter. Die DB hat für die aktuelle Sammlung von Absichts­erklärungen Namen wie "Starke S‑Bahn München" oder "Programm 14plus" erfunden. Man fragt sich natürlich, ob die nun genannten 14 Maßnahmen nicht schon lange fertig wären, wenn man nicht zu oft und zu lange den Fokus zu sehr auf der zweiten Stammstrecke gehabt hätte.

Im Rückblick hat das Projekt zweite Stammstrecke leider schon Schaden angerichtet, bevor es startete. Nachdem der damalige Verkehrsminister Wiesheu seine Pläne angekündigt hatte, gingen bereits mehrere für den Baubeginn genannten Termine vorbei, während über die Sinnhaftigkeit des Projekts, seine Finanzier­bar­keit, und verschiedene Varianten 15 Jahre lang diskutiert wurde. Diese Zeit war damit beim symbolischen Spatenstich 2017 für die Entwicklung des Münchner S‑Bahn-Systems schon verloren.

Ein zentrales Problem ist, dass man sich lange der Illusion hingab, die zweite Stammstrecke würde so früh fertig, dass man weitere dringende Maßnahmen im S‑Bahn-Netz erst danach beginnen könne. Diese Haltung änderte sich leider auch nicht bei Baubeginn, obwohl 2017 schon klar war, dass man spät dran war, und sich ein Berg von Versäumnissen beim S‑Bahn-Ausbau auftürmte. Als dann dämmerte, dass man besser parallel irgendetwas machen sollte, stand man ziemlich blank da, und kramte ein paar Sachen hervor, die man vorher gerade wegen der zweiten Stammstrecke tief in Schubladen verstaut hatte. Einige Konzepte, wie ein Anschluss der Sendlinger Spange am Bahnhof Laim, wurden leider auch durch die Stammstrecken­planung zunächst einmal verbaut.

Zu den Ergebnissen des Münchner Treffens kann man sich eine Aufzeichnung der Pressekonferenz anschauen (https://youtu.be/EOxEIslpahY); die Süddeutsche Zeitung hat die jetzt wieder vorgeschlagenen Ersatzmaßnahmen analysiert (https://sz.de/1.5667213). Auch die wenigen neuen Vorschläge scheinen eher aus der Not geboren. So ist zum Beispiel unklar, was zusätzliche Weichen zwischen Lohhof und Neufahrn bei Störungen bringen sollen, da bei der dichten Belegung der Strecke ein eingleisiger Betrieb auch abschnitts­weise nur bei Reduzierung der Zugfahrten (üblicher­weise Einstellung der S1) vorstellbar ist.

Dass durch die vorgestellten Maßnahmen die katastrophale Unzuverlässigkeit des S‑Bahn-Betriebs beendet werden kann, zeichnet sich nicht ab. Weiterhin gilt: zu wenig und viel zu spät. Ein attraktives S‑Bahn-System, dass seinen Anteil zur Verkehrswende und zur Verkehrs­verlagerung von der Straße beisteuern kann, ist nicht erkennbar. Auch wenn irgendwann die zweite Stammstrecke eröffnet wird, werden weiterhin Teile der Infrastruktur wie bei S1 und S4 überlastet sein, andere Teile störanfällig wegen Eingleisigkeit, sowie auf einigen Linien die Bahnsteige zu kurz für lange Züge. Und in Geretsried wird man noch lange Busfahren dürfen, da auch das Projekt einer S7-Verlängerung von Verkehrs­ministern und Kommunal­politikern vor die Wand gefahren wurde.

Edmund Lauterbach

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