Dieser Text basiert auf einem Artikel
für die PRO BAHN Post Januar 2023. Bearbeitungsstand: 19.12.2022 |
Quellen und weiterführende Dokumente
Bahnausbau zwischen Zielen und Versäumnissen Ende 2020 ist der "1. Münchner S‑Bahn-Vertrag" in Kraft getreten. Zurzeit läuft die erste Betriebsstufe dieses Verkehrsvertrags, die 2021 schon kleinere Verbesserungen brachte, und die seit Dezember 2022 dazu führt, dass zahlreiche Lücken im 20-Minuten-Takt der Außenstrecken geschlossen wurden. Die zweite Betriebsstufe des Vertrags sollte dann die Nutzung der zweiten Stammstrecke durch die Münchner Innenstadt umfassen. Der ursprünglich ins Auge gefasste Zeitraum der zweiten Betriebsstufe lag zwischen 2026 und 2034. Wie sich im vergangenen Sommer herausstellte, wird die zweite Stammstrecke aber weder 2026 noch 2034 fertig werden. Was also tun? Eine einfache und bequeme Möglichkeit wäre natürlich, den Vertrag um fünf bis acht Jahre zu verlängern. Aber wäre ein solcher Schritt auch angemessen? Was erwarten wir für die Zukunft? Die Antwort ist doch: Wir erwarten höhere Fahrgastzahlen und ein Verkehrssystem, das mit diesen Fahrgastzahlen gut zurechtkommt. Das Betriebsprogramm für die zweite Stammstrecke ist aber für die zweite Hälfte des aktuellen Jahrzehnts entworfen worden, und nicht für die Zeit nach 2035 oder 2038. Der S‑Bahn-Vertrag sieht im Vergleich zu heute eine Steigerung der Zugzahlen im Bereich der Innenstadt um etwa 38 Prozent vor. Das hört sich zunächst nach viel an, in der Hauptverkehrszeit sind aber nur sechs zusätzliche Züge pro Stunde und Richtung vorgesehen, wenn man alte und neue Stammstrecke zusammen betrachtet. Genaueres ist im Artikel "Fünf Jahre zweite Stammstrecke" vom Mai 2022 ausgeführt. Sechs Züge mehr pro Stunde würden bei heutigen Fahrgastzahlen zunächst für etwas Entspannung sorgen, vorausgesetzt das Betriebsprogramm klappt wie geplant. 2026 würde man das vielleicht auch noch so sehen. Aber was wir wollen, ist eine Verkehrswende. Und das möglichst noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Eine Verkehrswende setzt aber voraus, dass die Fahrgastzahlen schon 2030 deutlich gestiegen sind, von 2035 oder 2040 ganz zu schweigen. Sowohl im Bund als auch in Bayern hat man Ziele verkündet, die eine Verdopplung von Fahrgastzahlen bis 2030 enthalten (im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019). Auch wenn man davon ausgeht, dass die Lastspitzen etwas flacher werden, und sich Fahrgastzahlen teilweise von der morgendlichen Spitzenstunde weg mehr auf den ganzen Tag verteilen, dürften sechs Züge mehr in der Münchner Hauptverkehrszeit dazu bei Weitem nicht ausreichen.
Als erstes muss man ganz klar feststellen, dass das Desaster der zweiten Stammstrecke dazu führt, dass das Ziel einer Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030 nicht mehr zu erreichen ist. Das gilt nicht nur für München, sondern aufgrund des hohen Anteils des ÖPNV im Raum München auch bayernweit. Und es gilt nicht nur für 2030, sondern auch für die Jahre danach zeichnet sich kein Weg zu diesem Ziel ab. Das ist eine verkehrspolitische Katastrophe, weil als Ausgleich die Zahl der Autofahrten in Bayern und insbesondere in der Region München überproportional steigen wird – mit allen negativen Konsequenzen. Die Zeitverzögerung kann aber nicht heißen, die Hände in den Schoß zu legen. Im Artikel "The Great Munich S‑Bahn-Desaster" vom November 2022 ging es unter anderem um Maßnahmen, die der Freistaat aufgrund des Versagens bei der Stammstreckenplanung wieder aus der Schublade geholt hat. Auch dazu muss man feststellen, dass diese Maßnahmen für das Ziel einer Verdopplung der Fahrgastzahlen völlig ungeeignet sind. Man kann vielleicht dadurch, dass man den S‑Bahn-Betrieb an der ein oder anderen Stelle etwas stabilisiert, einige wenige Prozent mehr Fahrgäste erreichen. Schlechte Infrastruktur der DB, Personalprobleme oder auch der weiter ausufernde Straßenbau führen aber gleichzeitig zu negativen Effekten. Wenn jetzt noch von der Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030 gesprochen wird, ist das politische Propaganda, oder vielleicht ein frommer Wunsch konservativer Politiker. Verkehrspolitik besteht aber nicht aus dem Aufstellen von Wunschlisten (die in Wirklichkeit nur Listen von Versäumnissen sind, wie die SZ richtigerweise feststellt), sondern aus der Umsetzung konkreter Maßnahmen. Für das Ziel einer deutlichen Erhöhung der Fahrgastzahlen ist es wichtig, dass Strategiepapiere nicht einfach in die Schublade gelegt werden. Bis zur Eröffnung der zweiten Stammstrecke sind mehr und wirksamere Maßnahmen im S‑Bahn-Netz nötig, als bisher zugesagt wurden. Verkehrsminister und DB müssen handeln; Projekte vorziehen, Planungen umsetzen. Worauf wartet man – beispielsweise bei der seit Jahren versprochenen Bahnsteigquerung am Hauptbahnhof? Nach Eröffnung der zweiten Stammstrecke muss die Verdopplung der Fahrgastzahlen im Vergleich zu 2019 möglichst schnell erreicht werden. Dazu braucht es allerdings einen anderen Verkehrsvertrag mit einem deutlich ambitionierteren Betriebsprogramm. Man kann und muss nicht sofort die von der DB in Aussicht gestellte theoretische Kapazität der beiden Stammstrecken von 60 Zügen pro Stunde und Richtung ausreizen. Aber 36 Züge sind für 2035 und später keine Perspektive. Ein Betriebsprogramm, das etwa mit 42 Zugfahrten startet und ein Aufwuchspotenzial bis 2040 (von vielleicht 48 Zugfahrten) enthält, ist eher angemessen. Und für die Zeit danach muss neben der ersten und zweiten Stammstrecke der Südring für S‑Bahnen ausgebaut werden. Entsprechende Konzepte sollten jetzt entwickelt werden. Eine unausgegorene Planung rund um den neuen Haltepunkt Poccistraße ist dabei wenig hilfreich.
Die verlorene Zeit ist äußerst tragisch (insbesondere da das Thema zweite Stammstrecke schon zu Beginn des Jahrhunderts zu 15 Jahren Zeitverlust führte), man muss die Zeit aber nutzen. Dazu gehören neben der Konzeption eines erweiterten Betriebsprogramms auch, die infrastrukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Der Ausbau weiterer Außenstrecken muss viel energischer angegangen werden. Dazu gehört auch die Verlängerung von Bahnsteigen, um nicht in der Hauptverkehrszeit mit zu kurzen Zügen unterwegs zu sein. Fehlerquellen im Bahnnetz müssen eliminiert werden, indem beispielsweise Bahnübergänge beseitigt werden. Das Trauerspiel um den Bahnübergang Fasanerie mitten in der Landeshauptstadt führt das Problem überdeutlich vor Augen. Die Kommunalpolitik wirkt leider allzu oft als zusätzliche Bremse beim
Bahnausbau. Völlig ungelöst sind die Probleme im Bereich
Daglfing/ Wichtig ist, dass die Region zusammenhält. Freistaat, Stadt, Umland, der MVV und die DB müssen gemeinsam die Projekte voranbringen – und zwar nicht durch Schaffung neuer Gremien, sondern durch Handeln. Der Zeitverlust und die Kostensteigerungen führen neben allem anderen Ungemach zu mehr Konkurrenz um die Finanztöpfe des Bundes. Die Stimmen, dass zu viel Geld nach München fließt, mehren sich. Dem entgegen steht, dass München mit seiner hohen Bevölkerungsdichte, als größte deutsche Kommune, bei der Stadtpolitik und Landespolitik getrennt sind, mit seinem Zuwachs und seiner Attraktivität auch besondere Probleme hat. Es braucht wieder bessere und zukunftsweisendere Planungen. In den letzten Jahrzehnten haben wir zu viel Abschreckendes gesehen, und dadurch den im vorigen Jahrhundert erarbeiteten Status gefährdet. München war oft die Zuglok für positive Entwicklungen über die Region hinaus – das sollte man nicht leichtfertig aufgeben. Guter ÖPNV ist überall eine Herausforderung, und wenn München nicht vorangeht, wer dann? Edmund Lauterbach |
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© Edmund Lauterbach – 19.12.2022 /
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