»Hoffmann« im Gelsenkircher

Fantasy-Land


www.musiktheater-im-revier.de


Besuchte Vorstellung 10. Juni 2017 (Premiere)







Regie und Bühnenbild


Michiel Dijkema

Dirigent


Valtteri Rauhalammi

Chorleitung


Alexander Eberle

Kostüme


Julia Reindell

Version


Kaye-Keck

Sprache


Französisch




Hoffmann


Joachim Bäckström

Muse


Almuth Herbst

Olympia


Dongmin Lee

Antonia


Solen Mainguené

Giulietta


Petra Schmidt

Widersacher


Urban Malmberg









Der gestirnte Himmel über den Zuschauern


Fazit Gelsenkirchen: Ein rundum gelungener »Hoffmann«, der dem Motto dieser Oper opéra fantastique voll gerecht wurde. Für Augen und Ohren wurde viel geboten: schöne Stimmen in allen Rollen mit einem wie für diese Rolle geschaffenen Hoffmann, ein sorgfältig einstudierter Chor, kongeniale Orchesterbegleitung, prächtige Kostüme, und eine erfreuliche Abwesenheit von werksfremden Bizarrerien. Zu loben ist auch das kostenlose kleine Programmheft, das eine klare und korrekte Entstehungsgeschichte dieser Oper enthält. (Der Text ist unten angehängt) Von selten guter Qualität sind die Bühnenfotos. In Gelsenkirchen durfte ich meinen »Hoffmann« Nr. 98 genießen, seit vor genau 10 Jahren meine Hoffmannie ausbrach. Das Theater liegt in der Nähe des Fußballstadions von Schalke 04.


Das Musiktheater im Revier ist ein großzügiger moderner Neubau, dessen Eröffnungsjahr überrascht: 1959. Der Architekt schuf ein avantgardistisches Gebäude, dessen Gestaltung seiner Zeit weit voraus war, denn es könnte auch ein heutiger Neubau sein. Auch der Innenraum wirkt supermodern. Man fühlt sich wie unter einem Sternenhimmel, wenn man ihn betritt. Er besteht aus einem ansteigendem Parkett, über das sich zwei stark abfallende Ränge ziehen. Jeder sieht gut, die Akustik ist augezeichnet. Das Theater hat ca. 1000 Plätze. Es wird von der Stadt betrieben und bekommt Landeszuschüsse. Die nächste Oper ist nur drei S-Bahnstationen entfernt: das Aalto-Theater in Essen, in dem ich im Oktober 2011 einen »Hoffmann« sah. Vor dem Gelsenkirchener Musiktheater liegt eine U-Bahnstation gleichen Namens. In der laufenden Saison gab es bemerkenswerte 12 Premieren von Opern, Operetten und Musicals, dazu noch weitere musikalische Produktionen. An der Scala di Milano gibt es in manchen Spielzeiten nur mehr eine einzige Neueinstudierung.


Das alte Theater wurden von den Flächenbombardierungen des britischen Luftmarschalls Arthur Harris plattgemacht, um den Krieg zu gewinnen. Über dem Theater ließ der Intendant in großer Schrift den Grundgesetzartikel 1 von der Würde des Menschen als politische Mahnung gegen Rechts anbringen. In den Straßen rund um das Theater ist Deutsch zweite oder dritte Fremdsprache. Migranten gehen aber nur selten in die Oper. Ich sah kein Kopftuch und keine schwarzen Bärte. Die Premiere war nicht ganz ausverkauft. An den Seiten der Ränge gab es ein paar freie Plätze, möglicherweise eine Folge des schönen warmen Sommerabends draußen. Da das Theater einen ziemlich hohen Zuschauerrraum hat, muss man sich den Zugang, besonders zu den oberen Rängen, physisch erarbeiten.


Ach ja, noch was Interessantes. In der Oper »Hoffmanns Erzählungen« spielt ja Mozarts »Don Giovanni« eine Rolle. Und in Gelsenkirchen wird nun auch parallel zum »Hoffmann« ein »Don Giovanni« gegeben. Habe ich auch noch nicht erlebt.


Hoffmann inmitten seiner Freunde


Coppelius, liegend Hoffmann, Niklaus


Pünktlich und schön wuchtig erklangen die Auftaktakkorde, und dazu noch mit forte und piano schön differenziert. Eine nüchtern-leere Taverne des Lutter mit neun Tischen erschien in fahler Beleuchtung. In knallgrünem Tüllkeid und roter Perücke trat die Muse auf. In der Hand hielt sie eine leuchtende Flasche. Nach ihrer Vorstellung verschwand sie in einer Rauchwolke. Lindorf schien nicht aus einer Stadtratssitzung zu kommen, sondern von einem Großen Rat beim Herrn der Ringe oder Harry Potter: ein Kostüm wie aus einem Fantasy-Film. Niklaus kam, nun als grüner Waldschrat, der auch in diese Filme gepasst hätte. Die Chorsänger hingegen waren im Stil des Biedermeier gekleidet, wie später auch die Damen, also ungefähr die Zeit der letzten Lebensjahre E.T.A. Hoffmanns und der Kindheit des Jacques Offenbach. Das es damals keine Fantasy-Filme gab, sagen wir einfach, dass die Solisten der Hauptrollen Kostüme aus der Romantik trugen, wie sie auch E.T.A. Hoffmann in seinen Erzählungen kreierte.


Ein offensichtlich liebeskranker und nicht gerade zu Scherzen aufgelegter Hoffmann trat auf, der aber bald von seinen Freunden umgestimmt und zum Klein-Zach ermuntert wurde. Hoffmann trug ein knallgelbes Kostüm, das mich an einen Pierrot oder die Commedia dell´arte erinnerte. Beim Klein-Zach mimte einer seiner Freunde den hässlichen Zwerg. Als Hoffmann begann, von Stella zu schwärmen, schwelgte das Orchester in romantischen Tönen. Das freute mich, denn immer wieder schruppen Dirigenten Offenbachs Musik undifferenziert herunter, wie z.B. in der Münchner Staatsoper. Kräftiger Applaus für den in strahlendem Belcanto vorgetragenen Klein-Zach. 30 Minuten dauerte das Vorspiel bei Lutter. Gerade noch richtig. Das Extrem waren ein einmal 40 Minuten in Mannheim, wo man einen sensiblen Hoffmann auf die Bühne gestellt hatte. Aber in Gelsenkirchen hatte man sinnvoll gekürzt. Die musikalisch nicht besonders aufregenden Passagen über Fausta, Leonore und Gretchen hätte man auch noch weglassen können, ohne dass man sie vermisst hätte. Aber diese Triole der Damen wurde wohl am Gelsenkircher Musiktheater als relevant angesehen, weil sie die drei Geliebten des Hoffmann vorwegnehmen.


Olympia und Hoffmann


Bei Spalanzani saß eine in aufwändigem asiatischem Kostüm gestylte Olympa auf einem Tisch. Große rote Puffärmel, eine exotische Frisur. Spalanzani selbst stellte eine weitere Waldschratfigur aus einem Fantasy-Film dar. Mir ist ja jeder Spalanzani recht, solange er nicht als Einstein gestylt ist. Große Zahnräder bewegten riesige Augäpfel, an denen sich die Wimpern bewegten. Niklaus sang die Vogelarie unmittelbar bei Olympia, doch Hoffmann ignorierte die Warnung. Mit Coppelius kam eine weitere Fantasy-Figur. Applaus für das Couplet trois ducats.


Farbenprächtig gekleidete Damen in aufwändigen Biedermeierkostümen füllten die Bühne mit ihren weiten Reifröcken, auf den Köpfen Bierdermeierschuten. Spalanzani kassierte Eintritt für seine Schau. Superschnell und präzise lobten Spalanzanis Gäste Olympias Augen. Da hatte man wohl intensiv geprobt, denn bei Premierennervosität kamen da so manche Chöre und Orchester außer Takt. Nicht so im Revier. Auch die Regie hatte viel Detailarbeit geleistet, ebenso die Beleuchtung, die kreative Farbkontraste auf die Bühne zauberte. Eine Koloraturarie in hellem Sopran erklang, präzise und nuanciert in legato und staccato. Olympia ließ man sogar drei Mal schwächeln. Tobender Applaus belohnte die Sängerin. Daraufhin musste Spalanzani seine Puppe reparieren. Coppelius vollführte seine Rache auf offener Bühne.



Es gab kräftigen Applaus für diesen Akt, und ohne Umbaupause ging es weiter mit dem Antonia-Akt.


Antonia und Mirakel


Ein riesiger Cellohals lag quer über der Bühne. Auch einige weitere Streichinstrumente verzierten die Bühne. Antonias Vater ist ja von Beruf Geigenbauer, und Jacques Offenbach war ausgebildeter Cellist und starb über der Vollendung dieser Oper. Hoffmanns düster blickende Freunde rahmten die Bühne ein. Eine totenbleich geschminkte Antonia sang melancholisch und mit berückend lyrischer Stimme ihr Auiftrittslied von der entflogenen Taube. Es kam wieder mal ein lustiger Franz in diesem traurigen Akt, aber immerhin beklagte er seinen Mangel an Technik.


Eine seelenvolle Geigenarie, die man erfreulicherweise nicht gestrichen hatte, gefiel dem Publikum und mir. Es gab den verdienten Applaus. Emotional gesungene Duette Hoffmann – Antonia folgten. Antonia war richtig euphorisch geworden, als ihr Geliebter wieder aufgetaucht war. Gute Detailarbeit der Regie, denn solche Nuancen beachten nur wenige Regisseure.




Mirakel erschien ähnlich gekleidet wie als Lindorf, nur jetzt in Weiß, damit seine Rolle als Arzt unterstreichend. Gespenstisch wurde dargestellt, wie er Antonia zum Singen verführte. Symbolisch für die todbringende Musik hob er ein Cello hoch, bevor er seine homöopathischen Fläschen präsentierte. Antonia war ihm völlig ausgeliefert und wurde sogar zur schwebenden Jungfrau. Mit zuckenden Blitzen schien er Antonia zu töten. Doch dann ging der Vorhang runter. Hm. Eine Schrift erschien, dass der Akt nach der Pause fortgesetzt würde. Das war vielleicht keine optimale Lösung. Ich hätte es besser gefunden, wenn man den Auftritt des Franz gestrichen und den Akt durchgespielt hätte. Die Pause war auch relativ kurz, als Wagner-Fanfaren zur Fortsetzung dieses Aktes dröhnten.


Antonia lehnte an einem Cello. Antonias Mutter sang im Zuschauerraum, weiß gekleidet und verschleiert. Am Cellohals rotierten die Wirbel. Spontaner begeisterter Applaus für dieses ergreifend gesungene Terzett, doch der Dirigent ließ weiterspielen. Die dunklen Gestalten rund um das Geschehen applaudierten der toten Antonia. Und wir durften nun endlich diesem gelungenem Akt Applaus spenden.



Die Barkarole erklang, zwar mit Piccoloflöte, aber es gelang, sie in ihrer Lautstärke zu begrenzen. Wir befanden uns in einer Orgie mit allerlei erotischem Schabernack, in der es Niklaus, der Schlingel, gegen Bezahlung mit der Kokotte Giulietta trieb. Giulietta war exzentrisch gekleidet, und unterstrich ihr Wesen als erotische Freibeuterin mit einer Augenklappe. Schlemihl war ihr Fußsklave. Das war mal wieder eine feurige Giulietta. Über ihr schwebte eine venezianische Gondel.


Selbst in der teuren Kaye-Keck-Fassung unterblieb Jacques Offenbachs Original-Diamantenarie und wurde durch die von fremder Hand eingefügte Spiegelarie ersetzt. Naja, das Publikum will´s wohl so. Auch das Sextett mit Chor erklang, obwohl dessen Herkunft immer noch nicht eindeutig geklärt ist. Aber die sechs Solisten samt Chor schafften es, nach einer Fermate ziemlich gleichzeitig einzusetzen. Das gelingt nur selten.


Ein dramatisches Duell Hoffmann – Schlemihl folgte, das Dappertutto entschied. Als Giulietta Hoffmann um sein Spiegelbild brachte, begann die Gondel über ihr zu brennen. Als Hoffmann Giuliettas Betrug realisierte, erstach er Giulietta. „Getötet von einem Dichter!“ Schrill und irritierend endete dieser Akt.


Hoffmann und sein Niklaus waren alleine auf der Bühne, als der ernüchternde Hörnerchor erklang. Der selten zu hörende melancholische à cappella-Männerchor erklang. Hoffmanns drei Frauen erschienen in gelben Biedermeierkostümen. Hoffmann sang den Rest des Klein-Zach an Olympia hin, die aber darob gar nicht begeistert war. Lindorf legte dem verzweifelten Hoffmann ein Pistol hin, das der nach einigem Zögern nahm und sich unter das Kinn hielt. Doch Niklaus war nun wieder zur Muse geworden und sang ergreifend von der Asche seines Herzens, aus der er auferstehen werde. Die Botschaft „Man wird groß durch die Liebe, aber größer durch das Leid“ brachte Hoffmann vom Selbstmord ab. „Entzünde dein Genie an der Asche deines Herzens.“ Und Hoffmann war gerettet. Die Muse gab ihm Papier und Stift, und Hoffmann begann frenetisch zu schreiben. Die Muse versteckte das Pistol.


Eine Orgel erklang, welche diesem ergreifenden Finale einen sakralen Charakter verlieh. Was für ein gelungenes und intensives Ende dieser Oper. Beispielhaft!


Als Erster kam Hoffmann alleine auf die Bühne und wurde sogleich bejubelt. Joachim Bäckström aus Schweden ist ja wirklich eine Idealbestzung für diese Rolle. Ebenso bejubelt wurden die anderen Solisten, der vierzigköpfige Chor samt Chorleitung, das Orchester und das Regieteam, das aber nur aus zwei Personen bestand: Regisseur = Bühnenbildner sowie Kostümbildnerin. Nach gut fünf Minuten spendete das Publikum stehend Applaus. Der dauerte zehn Minuten, bis ihn der Vorhang schnöde und abrupt beendete. Da wären locker nochmal fünf Minuten drin gewesen. In Gelsenkirchen ließ man nämlich die Gesangsstars immer wieder alleine vortreten. Die motivieren das Publikum zum Klatschen.

Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen bei der Oper Gelsenkirchen und beim Fotografen Pedro Malinowski. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit und für die ausgezeichnete Qualität dieser Bühnenfotos.


Anschließend gab es eine nette und gut besuchte Premierenfeier, die allen Premierenbesuchern zugänglich war. Auf der entstanden folgende Bilder:






Der Intendant bei seiner Ansprache



Muse, Franz/Piti, Olympia, und Antonia aus Frankreich




Olympia aus Korea



Dramaturgin, und Hoffmann aus Schweden





Entstehungsgeschichte dieser Oper

von Anna Grundmeier, Dramaturgin am Musiktheater im Revier

Einfach unvergleichlich!

Als Jacques Offenbach am 5. Oktober 1880 in Paris starb, hatte er seine Oper „Les Contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) fast vollendet – aber eben nur fast: Zwar war es ihm noch gelungen, vier der insgesamt fünf Akte fertigzustellen, vom Epilog existierten dagegen lediglich grobe Skizzen, eine Instrumentierung des Werks fehlte komplett. Seither ist es dieses „fast“, das Theatermacher und Musikwissenschaftler abwechselnd elektrisiert oder in den Wahnsinn treibt.

Bis heute tauchen auf Dachböden französischer Schlösser, bei Auktionen und in Archiven regelmäßig längst verschollen geglaubte Fassungen von Text- und Kompositionsständen auf. Manche dieser Funde hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Aufführungspraxis der Oper, die meisten brachten jedoch eher mehr Verwirrung ins ohnehin schon unüberschaubare Quellenchaos.

Nach 137-jähriger Forschungsexpedition muss man sich wohl behutsam mit dem Gedanken vertraut machen, dass „Hoffmanns Erzählungen“ ist, was es ist: Ein unvollendetes Stück – aber eines von unvergleichlicher Faszinationskraft.


Dieses Opernfragment ist in jeder Hinsicht vergleichslos: in seiner Entstehungs- und Aufführungsgeschichte, in seiner Fülle an szenischen wie an musikalischen Einfällen. Es scheint, als hätte der gebürtige Kölner und Wahlfranzose Jacob „Jacques“ Offenbach am Ende seines Lebens noch einmal alle Kräfte mobilisiert, um der Welt zu zeigen, was in ihm steckt. Trotz der gesundheitlichen Einschränkungen durch seine fortschreitende Gichterkrankung begab sich Offenbach 1877 beherzt an die Komposition seiner, wie er ahnte, letzten Oper. 1851 hatte er im Théâtre de l’Odéon das fünfaktige Schauspiel „Les Contes d’Hoffmann“ von Jules Barbier und Michel Carré in Paris gesehen und machte sich nun mit Barbier als Librettisten an die Vertonung dieses monumentalen Stoffes, der auf geschickte Weise biografische Motive des Dichters E.T.A. Hoffmann mit dessen fantastischen Erzählungen (u.a. „Der Sandmann“, „Rat Krespel“, „Die Abenteuer der Sylvester-Nacht“) verwebt.


Man ist groß durch die Liebe und noch größer durch die Tränen“ resümiert Hoffmanns Muse in einer der verschiedenen Epilog-Varianten ihre Moral aus den zahlreichen amourösen Bruchlandungen ihres dichtenden Schützlings. Da sie weiß, dass größte Kunst nur aus tiefstem Leid entstehen kann, „bewahrt“ sie Hoffmann mit charmantem Sadismus stets aufs Neue vor den „Gefahren“ erfüllter Sehnsucht. Und ihre Rechnung geht auf. Als Hoffmann in Lutters Weinschänke wieder einmal die Scherben einer Beziehung aufkehren muss, verwandeln sich diese vor den Ohren seines erwartungsfrohen Studentenpublikums in kunstvolle, ebenso anrührende, traurig-komische wie farbenreiche Erinnerungsbilder seiner drei vorangegangenen Liebesmiseren.

Hoffmanns Erzählungen“ ist, so einfach dies klingen mag, vor allem eine Oper über das Erzählen. Durch die Pforten der Rahmenhandlung in Lutters Weinkeller dringt das Publikum in den Binnenakten tiefer und tiefer in die aufgewühlte Innenwelt des liebenswerten Titelhelden vor und wird so zum Mitstreiter seiner kreativen Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung.

Jede der drei Erzählminiaturen ist gleichzeitig ein Spiegel seiner aktuellen Situation. In der Sängerin Stella vereinen sich all jene Eigenschaften, die Hoffmann einst die Liebe (und das Leben) seiner drei Geliebten kosteten: Die Seelenlosigkeit Olympias, die Ruhmessehnsucht Antonias, die Habgier Giuliettas – in Hoffmanns fantastischen Schilderungen erscheinen sie märchenhaft überzeichnet als übermächtige, übernatürliche Phänomene einer dunklen Gewalt, die den Poeten immer wieder ins Straucheln bringt. Teuflischer Strippenzieher dieser finsteren Macht ist, zumindest in Hoffmanns phantastischer Vorstellung, sein ewiger Widersacher Lindorf, der ihm nicht nur in Liebesangelegenheiten stets um eine Nasenlänge voraus zu sein scheint. Folgerichtig ist er in Hoffmanns Geschichten auf die Rolle des Bösewichts gebucht, die er mit zunehmender Dämonie erfüllt: Während sein Handeln als Augenhändler Coppélius in der Olympia-Erzählung noch die nachvollziehbare Konsequenz des Betrugs durch den geprellten Erfinder Spalanzani ist, verzerren sich seine Motive sowohl als Doktor Miracle im Antonia-Akt wie auch als finsterer Kapitän Dapertutto im Giulietta-Akt zunehmend ins Satanische, gegen das Hoffmann – natürlich – niemals eine Chance hat.


Für den Komponisten Jacques Offenbach ergab sich aus den verschiedenen Spielformen weiblicher Verführungskraft und männlicher Aggression ein Füllhorn an musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten, die er vortrefflich zu nutzen verstand. Jede der Welten, in die Hoffmann und sein Schöpfer ihr Publikum entführen, besitzt ihre eigene überbordende musikalische Farbpalette. Den Figuren sind wiederkehrende Motive zugeordnet, die sie charakterisieren und den Bezug zur Rahmenhandlung verdeutlichen: So werden beispielsweise die Geliebten Hoffmanns durch eine Cello-Figur in Verbindung zu Stella gebracht – eine musikalische Hommage Offenbachs an seine eigene Vergangenheit als Cellisten-Wunderkind.

Um die Beziehung der Akte untereinander zu verdeutlichen, beabsichtigte der Komponist, sowohl die Frauenfiguren als auch die Bösewichter jeweils von einer einzigen Sängerin, bzw. einem einzigen Sänger darstellen zu lassen. In Hinblick auf die Frauenrollen erwies sich dieses Ansinnen bereits zu Lebzeiten des Komponisten jedoch häufig als schwierig, da die einzelnen Partien zu unterschiedliche Ansprüche an die Interpretinnen stellten, um ihnen in vollem Umfang gerecht zu werden. Heute werden die Partien der Olympia, Antonia und Giulietta zumeist von drei Sängerinnen gestaltet.

Die komplizierte Entstehungs- und Aufführungsgeschichte (die zu vertiefen sich unbedingt lohnt!) hat „Hoffmanns Erzählungen“ zu einem Marktplatz der Möglichkeiten gemacht. Jedem Theater ist es überlassen, selbst zu entscheiden, ob es das Stück in deutscher oder französischer Sprache aufführen will, mit Dialogen oder Rezitativen, mit einer oder drei Sopranistinnen, mit einem Tenor oder Bariton in der Hauptpartie. Alle Optionen wurden von Offenbach oder von seinen Erben auf Grundlage autographer Skizzen selbst in Erwägung gezogen und vom Verlag zur Nutzung freigegeben. Dies macht jede Produktion des Stücks für Publikum und Künstler zu einer einmaligen, abenteuerlichen Reise, die ebenso fantastisch ist wie die überbordenden Erzählwelten des wohl sympathischsten Antihelden der Operngeschichte.


www.hoffmannserzählungen.de dankt für die Abdruckgenehmigung dieses Textes, der in dieser Form im Programmheft der Hoffmann-Inszenierung auf Schalke erschien.






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