Expressionistischer »Hoffmann« in Norwegian Wood in Oslo

www.operaen.no

Besuchte Vorstellung 4. Dezember 2013 (Premiere)







Regie


Calixto Bieito

Dirigent


Stefan Blunier

Chorleitung


David Maiwald

Bühnenbild


Rebecca Ringst

Kostüme


Ingo Krügler

Version


Eigene Bearbeitung von Guiraud-Choudens

Sprache


Französisch




Hoffmann


Evan Bowers

Timothy Richards

Muse


Ingeborg Gillebo

Olympia


Mari Eriksmoen

Antonia


Nina Gravrok

Giulietta


Randi Stene

Widersacher


Alex Esposito










Fazit: Ein spektakulärer »Hoffmann« am wohl großartigsten neuen Opernhaus Europas, wenn nicht der Welt. Ein Opernhaus, in dem man sich bei aller Moderne sofort wohlfühlt und in dem man von freundlichen Menschen als gern gesehener Gast willkommen geheißen wird. Eine Neuinszenierung durch den im spanischen Burgos geborenen und in Barcelona lebenden Regisseur Calixto Bieito, der manchen als enfant terrible der Opernwelt bekannt ist. Die Inszenierung brilliert mit großartigen Bildern, in denen die Gefühle der Charaktere oft drastisch ausgedrückt werden. Die Regie und Dramaturgie haben teilweise kräftig am Libretto gebastelt, ohne jedoch Hoffmanns Erlebnisse zu verfremden. Im großartigen Rahmen dieses überwältigend schönen Opernhauses spielte ein perfektes und meist gut dirigiertes Orchester, wie man das von skandinavischen Opernhäusern gewohnt ist. Auf Norwegisch heißt die Oper Hoffmanns Eventyr, was so viel wie Hoffmanns Abenteuer bedeutet. Dieser Bezeichung wurde die Inszenierung gerecht.


Kirsten Flagstad


Leider ist es so, dass die skandinavischen Opernhäuser in unseren Medien eher wenig Beachtung finden. Man konzentriert sich auf Met, Scala, Staatsopern in Wien, Hamburg und München. Doch an diesen Häusern bekommt man zwar oft Weltstars zu hören und zu sehen, aber regiemäßig wird dort meist nur Hausmannskost geboten. Da sind die Skandinavier schon unternehmungslustiger, und noch dazu pflegen sie ein höchst bemerkenswertes musikalisches Niveau. Skandinavische Orchester sind durchgehend Weltspitze, und auch die Sänger können sich hören lassen. Das kann ich nach Besuchen an den Opern von Stockholm, Bergen, Malmö und nun Oslo konstatieren.


Außerdem hat die skandinavische Opernwelt großartige Künstler hervorgebracht wie Jussi Björling, den manche für den größten Tenor aller Zeiten halten, Anne Sofie von Otter, Helge Rosvaenge, Birgit Nilsson, Nina Stemme und Kirsten Flagstad, deren Statue am Eingang zur Oper von Oslo steht.


Oslos neues Opernhaus ist ein überwältigend schönes Theater. Nachdem ich am Tag vor der Premiere eingeflogen war, schaute ich mir das Gebäude in der Dunkelheit an. In Oslo geht in dieser Jahreszeit die Sonne nach zehn Uhr auf und vor drei ist sie schon wieder weg. Mein erster Eindruck war nur: unglaublich. Am nächsten Tag ging ich zweimal um das 40.000 qm große Gelände, das sich aus dem Wasser des Oslofjordes erhebt, über das begehbare Dach und in das Haus, das weltweit Seinesgleichen sucht und mehrere Architekturpreise gewonnen hat.


Im Foyer hing ein Plakat zu den Contes. Das gefiel mir spontan, denn es zeigte einen ziemlich verzweifelten und niedergeschlagenen Hoffmann, der an seiner Existenz leidet. Das ist genau die richtige Interpretation dieser Rolle. Hoffmann ist kein jovialer Gentleman, der seine Niederlagen locker wegsteckt, sondern eine zerbrechliche Gestalt, die ihre Niederlagen an den Rand der Existenz bringen. Genau diesen Eindruck vermittelte das Plakat, das leider nicht erhältlich ist. Das hätte ich gerne bei mir aufgehängt.


Da gerade eine Führung durch die Oper stattfand, war es mir möglich, auch hinter die Kulissen zu blicken und etwas über die Entstehung des Hauses zu erfahren. Unsere Führerin, eine ehemalige Ballerina, erklärte uns, dass der rotunde Zuschauerraum, außen und innen ganz in Holz verkleidet, einen Baum symbolisiert. Einen großen Baumring bildet die riesige Deckenleuchte. In diesem Theater fühlt man sich spontan wohl. Zuerst die grandiose Architektur des Gebäudes, dann die heimelige Atmosphäre des Zuschauerraumes. Außen helles Eichenholz, innen dunkel gebeiztes norwegisches Holz, daher meine spontane Assoziation an das Lied der Beatles Norwegian Wood.







Die Oper hat 1400 Plätze und ist mit modernster und ausgefeiltester Bühnentechnik ausgestattet. Sie wurde 2008 nach fünfjähriger Bauzeit in Anwesenheit von u.a. Angela Merkel und mit viel Wagner-Musik eröffnet. Das Publikum war überwiegend in meiner Altersklasse mit einigen Jüngeren. Das ist überall so in Europa, außer in Polen. Einige Damen waren exquisit gekleidet in langen Roben, einige Herren in Hemdsärmeln.


Vor der Premiere gab es eine unterhaltsam vorgetragene und gut besuchte Einführung durch die Darstellerin der Mutter, Ingebjørg Kosmo. Sie hatte allerlei Puppen mitgebracht, um die Handlung zu illustrieren und sang einige Lieder aus den Contes. (siehe Bild links)


Überhaupt, die fünf Millionen Norweger. Sympathische, unaufgeregte Menschen. Freundlich, hilfsbereit, entspannt, zuverlässig und offen. Bei denen fühle ich mich immer spontan wohl. Und seit sie in den siebziger Jahren mit dem Öl reich geworden sind, investieren sie ihre Gewinne langfristig und grundsolide, so z.B. in ein grandioses Opernhaus in ihrer Hauptstadt. Die Zusammenarbeit mit der Osloer Oper war perfekt. Sofortige Bestätigung der Pressekarte. Als ich um Bilder für diese Besprechung bat, waren die postwendend da. Eine so problemlose Zusammenarbeit ist nicht die Regel, besonders nicht in den romanischen Ländern. Am 13. 12. ist eine Hoffmann-Premiere an der Opéra de Lyon. Auf eine Antwort auf meine Bitte um eine Pressekarte warte ich bis heute. Positive Ausnahmen waren Nizza, Rouen und Dijon.


Oslos Oper hatte Pech mit ihren Hoffmännern. Der vorgesehene Tenor erkrankte kurz vor der Premiere. So fand man in Chicago Evan Bowers, der eine Woche vor der Premiere in die Inszenierung einstieg. Doch auf dem Flug scheint auch er sich ein paar Viren eingefangen zu haben. Und so musste am Tag der Premiere der Waliser Timothy Richards aus Berlin eingeflogen werden. Timothy Richards, Haussänger an der Komischen Oper, ist wohl der erfahrenste Hoffmann-Interpret der Gegenwart, den er über die Jahre viele Dutzend Male gesungen hat, zuletzt in Bielefeld.


Die Premiere war ausverkauft und das Theater voll. Im Orchestergraben zählte ich sechs Celli und fünf Kontrabässe. Ein paar Männer, gekleidet wie Clochards, torkelten herein. Einer fiel und blieb liegen. Dann trat ein Herr mit Mikrofon vor die Bühne. Das ist nie ein gutes Zeichen.


Nachdem der Intendant die schwierige Lage nach Ausfall zweier Interpreten der Titelrolle dem Publikum erklärt hatte, begann die Vorstellung. Die Bühne war offen und leer. Sie hing voller Scheinwerfer, und ein grelles Licht blendete das Publikum. Noch spielte keine Musik. Der Vorhang blieb während der ganzen Vorstellung immer offen. Es wurde viel mit Licht gearbeitet, und die Beleuchtung wie auch die ganze Technik des Hauses waren auf bestem professionellem Niveau. Das Programmheft war grafisch gelungen gestaltet.



Musikalisch begann die Aufführung mit einer Katastrophe. Der Schweizer Dirigent hetzte die Auftaktakkorde, die laut Jacques Offenbachs Willen maestoso gespielt werden sollen, mit solcher Hast durch, dass ich noch nie ein schnelleres maestoso gehört habe. Ich besitze eine Schellackplatte mit Hoffmanns Erzählungen, auf der dieser Auftakt mindestens doppelt so lange dauert. Aufstehen und Gehen nach diesem allegro assai war unmöglich, denn ich saß mitten in einer Reihe im Parkett mit links und rechts jeweils 15 oder mehr Besuchern. Aber spätestens nach den Auftaktakkorden zum Antonia-Akt hatte ich dem Dirigenten verziehen. Doch davon später.


Eine elegant gekleidete Dame trat auf. Schwarzes Corsagen-Top und weiter weißer Plissee-Rock. Es war nicht Stella, wie ich vermutete, sondern Hoffmanns Muse. Sie trug eine Whiskey-Flasche in der Hand und machte die Männer an.


Muse verteilt Whiskey


Ein ziemlich energischer Lindorf trat auf und krallte sich Stellas Brief an Hoffmann, überflog ihn kurz und zerriss ihn. Die Muse alkoholisierte nun die Männer, indem sie sie mit dem Inhalt der Flasche besprenkelte. Sie befand sich als Prophetin des Rausches in einer neuen Rolle. Üblicherweise symbolisiert die Muse die Vernunft und soll mit ihrer Nüchternheit Hoffmann von seinen Abenteuern abhalten.


Dann stürmten an die 30 wilde Clochards herein und sangen die Trinklieder. Die Muse besprühte auch sie mit Alkohol. Hoffmann trat als besoffener Rocker auf. Evan Bowers sang den ersten Akt und den Olympia-Akt selbst. Er hat einen angenehm weichen und lyrischen Tenor, musste sich aber wegen seiner Erkältung zurückhalten. Sein mimisches Spiel war ziemlich lebhaft und glaubwürdig.



Dann sang er den Klein-Zach. Einer seiner Freunde aus dem Pennerchor wurde handgreiflich dazu gezwungen, den Klein-Zach zu mimen, wurde gefesselt und unsanft herumgeschubst. Auf der Bühne war echt was los. Gefühlvoll kam der Übergang zu Stella, entsprechend begleitet vom Orchester, das seinen Stil von lebhaft-ruppig zu einfühlsam-romantisch änderte. Also, der Dirigent versteht sein Handwerk doch. Und das Orchester spielte perfekt.



Lindorf zeigte seine Überlegenheit und ging mit dem Hoffmann nach Lust und Laune um. Doch leider hatten Regie und Dramaturgie den Prolog nicht ausreichend gekürzt. Wieder einmal mussten wir uns die Geschichten von Wilhelm und Leonore bis hin zu Fausta und Gretchen anhören. Die kann man doch weglassen und sind außerdem musikalisch nicht so spannend. Erfreulicherweise war nun der Blendscheinwerfer ausgegangen.


Olympia skalpiert


Der Olympia-Akt begann mit einem großartigen Bühnenbild. An die 20 Olympien standen lebendig als Klone auf der Bühne oder hingen als Puppen vom Himmel. Der Kubus des Bühnenhintergrundes war mit Tausenden von Lichtern behangen. Was für ein Bild!.


Dann kam der abgerissene Hoffmann herein. Seine Muse, wohl eifersüchtig, verschmierte die Gesichter der Olympien mit Lippenstift. Doch das half nichts. Hoffmann war hin und weg von dieser schönen Weiblichkeit.


Die Rolle des Spalanzani war auf ein stummes Statistendasein reduziert. Aber Hoffmanns Widersacher Coppelius kam als Blinder mit weißem Stock hereingetappert. Soso, ein blinder Brillenhändler. In Luzern hatten wir einmal einen blinden Spalanzani erlebt. Nun hatte es also den Coppelius erwischt. Der stumme Spalanzani führte eine als Olympia gestylte Transe an einer Hundeleine herum, was einige Herren im Publikum ziemlich erheiterte.


Teile des Chores standen im Zuschauerraum. Trotzdem wurden die schnellen Passagen perfekt gemeistert. Und der Dirigent hatte das Tempo nicht herausgenommen. Respekt.


Die echte Olympia hing die ganze Zeit fünf Meter über dem Boden an einem Seil. Das hatte ich schon 2007 in Bremen gesehen, wo die Olympia auch ein Norwegerin war. Mari Eriksmoen, die ich vor eineinhalb Jahren schon in Wien 2 als Olympia gehört hatte, sang den ersten Teil ihrer Rolle nun in luftiger Höhe und tat das ganz hervorragend. Gekleidet waren alle Olympien als avantgardistische Barbie-Püppchen, passend zur Jahreszeit wie Rauschgoldengel..


Calixto Bieitos nun herabgestiegene Olympia entwickelte sich zu einer richtig geilen Tussi. Endlich kam der von Stella frustrierte Hoffmann mal auf seine Kosten. Und auch die Olympia holte sich ihren Spaß. In Reiterinstellung vernaschte sie den Hoffmann während ihrer hervorragend gesungenen Koloraturarie. Eine kamasutrische und gesangliche Meisterleistung.




Hoffmann wird verlacht


Genial hatte der Regisseur das zweimalige rollengemäße Schwächeln der Olympia umfunktioniert. Ihr vorübergehendes Schwächeln hatte der nämlich in eine postorgasmische Erschöpfung umgedeutet. Doch bald hob sie zu neuen gesanglichen wie erotischen Höhepunkten an, und ihr Gehopse ging weiter, und es gab eine dritte Runde. Offensichtlich hatte sich Hoffmann mit Viagra und norwegischem Lachs gestärkt, um da mithalten zu können.


Ein Beifallssturm belohnte sie, als sie endlich erschöpft über den Hoffmann sank. Dann erhob sie sich wieder und skalpierte ihre Rivalinnen.


Dann inszenierte Coppelius seine Rache. Die Olympien wurden nach und nach zerstört und sahen plötzlich ziemlich alt aus oder fielen einfach um. Die Transe stand in Unterhosen da. Und bei einer Olympia explodierte der Kopf. Schlechte Arbeit von Spalanzani. Tja, da konnte die Puppe Olympia nur noch Selbstmord begehen, indem sie sich mit einem Schlachtermesser den Hals durchschnitt. Und der arme Hoffmann wurde kräftig verlacht.


Das Orchester spielte einen kakophonischen Misston wie am Ende von Ravels Bolero, Klagen und Wehgeheul erfüllten die Bühne, und die letzten Olympien kollabierten.

Freundlicher Applaus und Pause.


Antonias Zimmer, links Hoffmann, rechts Franz. Für dieses schöne Bild gab es spontanen Applaus.



Spontaner Szenenapplaus für ein Bühnenbild ist eher selten. In meinen mittlerweile 68 Hoffmännern seit 2007 hatte ich den erst zwei Mal erlebt. Bei einem davon, in Breslau, hatte ich den ersten Klatscher getan, aber das Haus war sofort dabei gewesen. Nun war es wieder so weit. Ich glaube ja, dass Regisseure den Applaus für ein Bühnenbild schon inszenieren, indem sie das Orchester warten lassen, bis eventuell ein Applaus entsteht. Aber einen Applaus für ein Bühnenbild kann man nicht programmieren.


Die Oper in Oslo hat ja eine riesige und tiefe Bühne mit perfekter Technik. Zuerst sah man auf der dunklen Bühne weit hinten einen breiten, hell erleuchteten Kasten. In der Mitte stand Antonia in einem einem langen schwarzen Kleid, neben ihr ein Flügel. Rechts von ihr Krespel mit einer Geige in der Hand, und abgegrenzt links Hoffmann. Ein beeindruckendes Bild. Während des anschwellenden Applauses wurde dieser hell erleuchtete Kasten immer größer. War das ein optischer Trick, ein Zoomeffekt? Nein, lautlos rollte dieser riesige, sicher tonnenschwere Kasten nach vorne, bis er die ganze Bühne ausfüllte. Was für ein fantastischer Effekt!


Dann kamen die Auftaktakkorde wie ich sie noch nie so gehört hatte. Fortissimo, dramatisch und wuchtig. Die Auftaktakkorde zum Antonia-Akt erinnern mich immer irgendwie an den Beginn der Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni. Diese Oper hat ja enge Bezüge zu Hoffmanns Erzählungen. Diese Parallelität ist vermutlich von Jacques Offenbach beabsichtigt gewesen. Man vergleiche einfach: Don Giovanni Ouvertüre und Hoffmanns Erzählungen Antonia-Akt. Diese Auftaktakkorde waren so ominös-bewegend, dass ich dem Dirigenten seinen Patzer vom Anfang gerne verzieh.


Hoffmann stand ja eigentlich nur virtuell in Antonias Zimmer, denn laut Libretto ist er noch gar nicht da. Und dann stimmte Antonia ganz souverän ihr Auftrittslied von der entflohenen Taube an, die aber eigentlich neben ihr stand. Hmm. Für ihren großartigen Gesang wurde sie bejubelt.


Danach kam gleich unvermittelt der Franz mit seinem Auftritt. Eigentlich hatte ich gedacht, dass der Mann mit der Geige der Geigenbauer Krespel ist, aber es war die Domestike. Während seiner Farce machten sich Antonia und Hoffmann lustig über ihn.


Evan Browers sang nun nicht mehr, sondern mimte nur auf der Bühne, während man Timothy Richards aus dem Orchestergraben singen ließ. Das war nun keine gute Idee, denn ich hörte ihn kaum. Das mag für Besucher in den Rängen anders gewesen sein, aber im Parkett war er schlecht zu vernehmen. Man hätte ihn unterhalb den Kasten stellen sollen.



Von dieser Stelle sang dann die Muse meine geliebte Geigenarie. Die war wieder einmal schön und wurde beklatscht. Während der Geigenarie kam ein ärmlich gekleideter Junge auf die Bühne. War der Antonias und Hoffmanns Kind?



Dann kamen die schönen Duette Hoffmann-Antonia, während denen die beiden immer heftiger miteinander schmusten. Ich musste die ganze Zeit fürchten, dass Evan Browers dabei auch noch die Antonia ansteckt. Im ganzen Theater wurde schon viel gehustet.


Mirakel und Antonia


Dann trat Mirakel auf, gestaltet wie Nosferatu. Mit ihm trat nun auch Vater Krespel auf. Mirakel untersuchte Antonia nicht virtuell wie sonst, sondern leiblich und setzte ihr diabolisch eine Spritze. Dann zog er sie an den Haaren und zwang sie so zum verderblichen Gesang. Zynisch ließ er einen Mälzel-Metronom vor ihr klicken, um ihr die ablaufende Lebenszeit vorzuhalten.


Dann spielte er ihren Gynäkologen. Vollzog er eine Abtreibung? Doch ein lebende weiße Taube wurde geboren. War die Antonias Seele? Konnte sein, denn die Taube saß fortan auf der Hand der Muse. Szenen von beklemmender Intensität spielten sich auf der Bühne ab, wie sie nur wenige Regisseure darstellen können. Zuletzt gelang das 2011 Lorenzo Fioroni in Osnabrück und im September 2013 Jakop Ahlbom in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. Totenstill war es im Theater. Sogar das Husten hatte aufgehört.






Antonia ist tot


Die Mutter trat auf, schwarz gekleidet wie Antonia. Die beiden gestalteten hauptsächlich das Terzett, denn Hoffmann war nur schwach aus dem Orchestergraben zu hören. Antonia und ihre Mutter tanzten sogar zusammen.


Mirakel triumphierte, als Antonia sich zu Tode sang, und Hoffmann riss in seiner Verzweiflung die Tapete von der Wand. Dazu lachte ein Dame im ersten Rang laut in die Stille hinein. War das inszeniert, Dummheit, oder konnte sie die beklemmend dargestellte Situation nicht aushalten?


Der verzweifelte Hoffmann schrieb mit Blut in großen roten Buchstaben ANTONIA an die Wand. Doch dann tröstete er sich mit einem Schluck aus der Flasche, und Krespels Gebetbuch, aus dem er die ganze Zeit vorgelesen und Seiten gerissen hatte, fing Feuer.


Hoffmann wollte auf Mirakel zugehen, doch der war mächtiger und bannte ihn mit seinem Blick. Totenstill war es im Theater, als Mirakel die Bühne verließ.



Während schon die Barkarole erklang, wand sich Hoffmann in agonischen Zuckungen. Schön gefühlvoll vom Orchester begleitet begann Giulietta die Barkarole, was sonst die Muse tut. Man vergleiche hier. Elīna Garanča singt vor Anna Netrebko.


Giulietta-Akt


Giulietta war in Grün gekleidet. Das war auch neu. Dabei rollte das Zimmer Antonias lautlos zurück. Statt des verschwindenden Zimmers hob sich ebenso lautlos eine bizarre Struktur hinter Giulietta und der Muse aus der Tiefe. Sie erinnerte an drohend nach oben gerichtete Lanzen, Schwerter und Dolche, die Hoffmanns gefährliche Lage symbolisieren sollten. Blutrot waren die beleuchtet, und inmitten dieser Struktur saßen laszive Gestalten aus Giuliettas Salon.


Hoffmann und Giulietta mochten sich richtig und schmusten noch heftiger miteinander als Hoffmann mit Antonia. Und dann kam wieder einmal die offenbar unvermeidliche Bloch´sche Spiegel-Arie, die mir immer weniger gefällt, seitdem ich Jacques Offenbachs Originalmelodie zu diesem Text kennengelernt habe.


Giulietta und Hoffmann


Hoffmanns Widersacher Dapertutto war nun ein lasziv gekleideter Transvestit, der Giulietta dominierte und andauernd demütigte. Diese sang auf eine mir unbekannte Melodie den Hoffmann an, was wie eine Parodie auf die Arie der Olympia klang. Dann warnte sie Hoffmann, dass er in großer Gefahr sei, obwohl er den Schlemihl gar nicht umgebracht hatte, denn diese Episode war gestrichen.


Hoffmann schien ziemlich scharf auf Giulietta zu sein und warf sich an sie. Doch Giulietta ließ Hoffmanns Liebesglut kalt über sich ergehen. Dafür entriss sie ihm dann sein Herz oder sein Herzblut. Den Verlust des Spiegelbildes hatte man so umgangen. Man muss ja im heutigen Norwegen vorsichtig sein. Seit Kurzem ist der Kauf von sexuellen Dienstleistungen, wie schon lange bei den schwedischen Nachbarn, strafbewehrt. Das heißt also, Männer, die eine Prostituierte besuchen, werden ins Gefängnis geworfen. Die Kurtisane bleibt straffrei. Da kann man nicht an der Nationaloper gegen ein gültiges Gesetz lästern.


Dapertutto und Giulietta triumphierten laut über den getäuschten Hoffmann. Dazu erklang wie zum Hohn die Barkarole. Der betrogene Hoffmann versuchte, Giulietta zu erstechen, doch die hatte wohl mehrere Leben. Sie stand gleich wieder auf und verspottete Hoffmann: Je t´aime. Dapertutto konnte sich gar nicht mehr beruhigen vor Vergnügen über den reingelegten Hoffmann.


Fehlerfrei erklang der ernüchternde Bläserchor. Dazu erschien, schon wieder eine Überraschung, Stella mit zwei Kindern, wenn ich das richtig sah. Waren es Hoffmanns Kinder aus der früheren Beziehung? Stella war ziemlich unspektakulär als Hausfrau gekleidet. Vielleicht ein genialer Einfall der Regie, dass die von Hoffmann idealisierte Stella auch nur eine Frau aus Fleisch und Blut ist.


Hoffmann und Stella (?) mit deren Kindern


Hoffmann sang den Rest des Klein-Zaches und wollte Stella die Kinder entreißen, doch die klammerten sich an die Mutter. Alle drei gingen ab.


Schön sang die Muse, nun ganz alltäglich gekleidet, les cendres de ton coeur. Doch Hoffmann widersprach trotzig: C´est mois, un artiste. Hier stehe ich und kann nicht anders. Trinkend und narzisstisch ging er nach hinten, doch er ging ins Licht. Eine Versöhnung mit der Muse fand nicht statt.


Das war nun mal wieder ein Schluss, der Vieles, wenn nicht Alles, offen ließ. Aber wenigstens ließ der Regisseur Hoffmann nicht im Suff enden oder gar sterben. Vielleicht geht er ja neuen Abenteuern entgegen, nye eventyre.

Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen bei der Oper Oslo und beim Fotografen Erik Berg. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Schluss und spontaner kräftiger Applaus. Als erste traten die ausgezeichneten Chorsänger auf. Jubel gab es für Olympia, Antonia und die Muse, und natürlich für den hervorragenden Widersacher. Auch die beiden Hoffmänner wurden beklatscht.



Für das Regieteam gab es weder Buhrufe noch besonderen Jubel. Neun Minuten dauerte der Applaus, die liegen schon leicht über dem Durchschnitt.

Eine Bitte an die Nationaloper Oslo: Machen Sie eine Videoaufzeichnung dieser beeindruckenden Inszenierung, die man erwerben kann.


Anschließend lud Oslos Oper das Premierenpublikum zur Teilnahme an der Premierenfeier ein, wie das schon die Grieghalle in Bergen getan hatte. In Schweden ist man wie in Österreich und in den slawischen Ländern exklusiver und feiert unter sich, während fast alle deutschen Opernhäuser zusammen mit ihrem Publikum den Premierenabend ausklingen lassen.




Regisseur Calixto Bieito (links) im Gespräch



Olympia (Mari Eriksmoen)



Einige der Hauptdarsteller auf der Premierenfeier. Links der Intendant Hansen, vorne im hellen Kleid Olympia, links hinter ihr Giulietta, rechts von ihr die Mutter, der Widersacher, Antonia und Spalanzani.





Der Restaurantbereich, von dem man auf den Oslofjord blickt. Dahinter im Wasser eine Plastik aus Glas und Stahl der in Berlin lebenden und in Wien lehrenden italienischen Künstlerin Monica Bonvicini. Diese Konstruktion mit dem Namen SHE LIES ist beweglich und passt ihre Lage den jeweils herrschenden Winden und Wasserströmungen an. Monica Bonvicini ließ sich von Caspar David Friedrichs Gemälde Das Eismeer zu ihrem Werk inspirieren.



Der Kassenbereich, dahinter der Zuschauerraum


Auf dem begehbaren Dach des Theaters





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