Ein »Hoffmann« als surreales Enigma am Teatro Real Madrid

www.teatro-real.es

Besuchte Vorstellung 25. Mai 2014 (Troisième)






Regie


Christoph Marthaler

Dirigent


Sylvain Cambreling

Chorleitung


Andrés Máspero

Bühnenbild und Kostüme


Anna Viebrock

Version


Oeser

Sprache


Französisch




Hoffmann


(Eric Cutler, sang die Premiere)

Jean-Noël Briend

Muse


Anne Sofie von Otter

Olympia


Ana Durlovski

Antonia und Giulietta


Measha Brüggergosman

Widersacher


Vito Priante






Fazit Madrid: Musikalisch war Alles bestens. Der Dirigent Sylvain Cambreling ist ein ausgewiesener »Hoffmann«-Spezialist. Er besorgte die erste umfassende Aufnahme der Oeser-Version (2006 bei EMI Classics auf 3 CDs erschienen, mit Neil Shicoff als Hoffmann). Cambreling zauberte einen klaren, durchsichtigen und gefühlvoll nuancierten Orchesterklang herbei, wie man ihn selten zu hören bekommt. Sängerisch war auch fast Alles bestens. Ein schöner lyrischer Tenor gab den Hoffmann, eine unglaublich kultivierte Anne Sofie von Otter die Muse, eine koloratursichere Ana Durlovski die Olympia, und eine feurig-sinnliche Measha Brüggergosman die Antonia und die Giulietta. Vito Priante brillierte stimmlich als Widersacher.

Inszenatorisch ein »Hoffmann«, der schwer zu verstehen war und zu beschreiben ist. Die reine Spielzeit von gut drei Stunden plätscherte belanglos dahin. Nur die bekannten Musiknummern ließen erkennen, dass es sich tatsächlich um die Contes d´Hoffmann handelte und gaben dieser Inszenierung eine Struktur. Ein Großteil des Bühnengeschehens bestand aus Bizarrerien, deren tieferer Sinn dem Zuschauer verborgen bleiben muss. Die Darsteller wurden meistens zu isoliertem autistischem Herumstehen oder -gehen verurteilt. Dramatische Interaktion gab es selten. Nur die Interpretin der Antonia und Giulietta brachte etwas Leben in die Aufführung. Es gab nur zweimal Szenenapplaus. Einmal für die lebhafte Olympia, den zweiten für die gefühlvoll gesungene Geigenarie im Antonia-Akt.

Das schmucklose Bühnenbild war uncharakteristisch und änderte sich während des ganzen Abends nur unwesentlich, wenn ein paar Utensilien ausgetauscht wurden. Die meisten der Kostüme würden in einer Straße nicht weiter auffallen.

Dann hatte ich die Teile in meiner Hand, fehlte, leider! nur das geistige Band. Anders ausgedrückt: ein Mosaik aus vielen Steinchen, die kein Ensemble bildeten.

Wetten, dass diese inszenatorische Bauchlandung über Kurz oder Lang im Fernsehen übertragen wird? Ich tippe mal auf den frankophilen Sender Arte, dessen Musiktheaterabteilung nicht davor zurückschreckte, den banalen »Hoffmann« der Münchner Staatsoper auszustrahlen.

Wie ich erfuhr, wird das Staatstheater Stuttgart diese Produktion übernehmen und in der Spielzeit 2015/16 aufführen. Ich bin gespannt auf die deutschen Kritiken.

Der preisgekrönte Kritiker Manuel Brug veröffentlichte in der Welt folgenden Bericht.

Nachtrag am 7.6.2014: Wie ich vorhergesagt hatte: Auf der Internetseite von Arte kann man die Aufzeichung vom 21.5. nachsehen. Anmerkung dazu unten.



Madrid ist eine prächtige Stadt mit eindrucksvollen Bauten, Straßen und Plätzen sowie Museen voll mit unschätzbar wertvollen Kunstwerken. Dieser Reichtum wurde mit dem Blut und Gold der versklavten Völker Mittel- und Südamerikas geschaffen. Nach einem kurzen demokratischen Intermezzo herrschte von 1939 bis 1975 der Diktator Francisco Franco, nachdem er im Bürgerkrieg – unterstützt von Mussolini und Hitler – die republikanischen Kräfte besiegt hatte. Heute ist Spanien, auch dank der Rolle des Königs Juan Carlos eine Demokratie und bereichert Europa mit seiner kulturellen Tradition.


Ich kenne außer Stockholm keinen königlichen oder präsidialen Palast, von dem aus der jeweilige Bewohner einen direkten Blick auf seine Oper hat. Der schwedische König muss ein paar hundert Meter und über eine Brücke gehen, aber der spanische König hat nur wenige Schritte bis zu seinem Teatro Real. Viel näher jedenfalls als bis zu seinem Fußballclub. Die Münchner Könige wohnten sogar direkt an den beiden Opern.



Das königliche Theater wurde im 19. Jahrhundert erbaut und 1850 von Königin Isabel II. eröffnet. 1925 wurde es wegen Baufälligkeit geschlossen. 1969 wurde es als Konzerthaus und 1997 wieder als Opernhaus eröffnet. Es hat gut 1700 Plätze und ist ein wunderschöner und luxuriöser Bau. Edelster Marmor und teure Hölzer bestimmen das elegante Bild dieses Opernhauses.


Mein erster Kontakt mit dem Teatro Real entstand, als ich die verschiedenen Aufführungsorte einer »Hoffmann«-Inszenierung aus diesem Hause verfolgte, die vor einem Jahrzehnt der heutige Intendant der Pariser Oper Nicolas Joel besorgt hatte. Ich sah sie schließlich in Bergen, nachdem sie vorher auch in Toulouse, Turin und Tel Aviv gespielt worden war. Nicolas Joel hatte eine monströse Produktion als Zirkusrevue auf die Bühne gestellt, in der im Olympia-Akt eine lebensgroße Dampflokomotive, die auch richtig dampfte, den dynamischen Erfindergeist des Spalanzani symbolisieren sollte.


Nun hatte das Teatro Real wiederum einen ausländischen Regisseur eingeladen, diesmal den Schweizer Christoph Marthaler, der mit seinen Operninszenierungen bisher nicht immer überzeugen konnte. Auch in Bayreuth verdiente er sich keine Lorbeeren. Ich sah von ihm zuletzt die Fernsehübertragung der Basler Inszenierung der Großherzogin von Gerolstein, die wie so viele belanglose Inszenierungen im Fernsehen, besonders auf arte und 3sat, übertragen wurde. Marthaler hatte aus der spritzigen Satire auf eine kapriziöse Regentin und das Militär eine harmlos dahinplätschernde Farce gemacht. Dieser Tradition blieb er sich in Madrid treu. Und wie die großartige schwedische Mezzospranistin Anne Sofie von Otter in Basel die Großherzogin für Marthaler gesungen hatte, so sang sie nun in Madrid die Muse.


Die Zusammenarbeit mit der Presseabteilung der Königlichen Oper war wie meistens in den romanischen Ländern schwierig. Zahlreiche Anfragen nach einer Pressekarte blieben unbeantwortet, und so verpasste ich die Premiere. Schließlich kaufte ich mir eine Karte, da ich schon einen Flug gebucht hatte. Das Einzige, was klappte, war die Übermittlung von Szenefotos, als ich wieder zu Hause war. Scheinheilig fragte mich die Pressechefin, warum ich denn keine Pressekarte beantragt hatte.



Marthaler war noch in der Amtszeit von Gerard Mortier (1943 – 2014) engagiert worden, der das Teatro Real von 2010 bis 2013 leitete. Beide Theaterleute arbeiteten oft zusammen.


Rechts hinten Aktmodell, davor Dalí-Double, davor Dauernackte, links Putin(?)


Auf dem Flug nach Madrid überlegte ich mir, wie wohl ein »Hoffmann« in Spanien zu interpretieren sei. Dabei kam mir das Paar Don Quijote und Sancho Panza in den Sinn. Hoffmann mit seinem treuen und mit Durchblick gesegneten Begleiter Niklaus bei seinen Abenteuern. Doch Marthaler hatte eher vor, in die Fußstapfen des spanischen Surrealisten und Franco-Bewunderers Salvador Dalí zu treten. Das entnahm ich jedenfalls einem Video, das in der Pause im Teatro Real zu sehen war. Danach verstand er den »Hoffmann« als surrealistisches Werk.


Das sehe ich ganz anders. Diese Oper trägt zwar den Untertitel Opéra fantastique, doch sie ist ein höchst realistisches Werk. Ein etwas versponnener und begeisterungsfähiger Dichter ist von bösen Menschen umgeben, die ihn schamlos ausnützen. Außer seiner Muse kann er niemandem trauen. So ist es auch häufig im realen Leben. Daran ist überhaupt nicht Surreales. Das ist bittere alltägliche Realität. Und so sollte diese Oper auch verstanden werden. Mit dem Faschistenfreund und Franco-Bewunderer Salvador Dalí hat der »Hoffmann« rein gar nichts gemein. Aber die Anspielungen auf Dalí waren zahlreich.



Das Theater war nicht ausverkauft, aber gut besucht. Das ist in der dritten Vorstellung in einer Stadt mit über drei Millionen Einwohnern und sieben Millionen im Großraum kein gutes Zeichen. Im Orchester zählte ich acht Celli und vier Kontrabässe. Das Publikum war altersmäßig gut durchmischt, die meisten Señoras und Señoritas äußerst elegant gekleidet.


Das durchgehende Bühnenbild


Als sich der Vorhang pünktlichst hob, blickte man in einen riesigen, schwer zu beschreibenden rechteckigen Raum, eine Art Halle, und in diesen blickte man, bis der Schlussvorhang fiel. Im Hintergrund war eine Sitzreihe wie im Kino, links war eine Theke, davor ein paar Stühle. Und als Blickfang stand eine Splitternackte Modell für zwei Aktzeichner, die vor ihr saßen. Das war die erste Anspielung auf Dalí. E.T.A. Hoffmann war ja auch begabter Zeichner. Allerdings sind von E.T.A. Hoffmann keine Aktzeichnungen bekannt. Neben dem Aktmodell stand eine Aktplastik. Die zweite Anspielung auf Dali war eine Bahnhofsuhr ohne Zeiger, die über der Bühne hing. Vorne links lag die ganze Zeit eine zweite Nackte, die allerdings einen G-String trug.


In diesem Raum fand eine Führung statt. Ein Herr in einem weißen Laborkittel, der sich später als Spalanzani herausstellte, führte eine Gruppe Besucher durch den Raum und erklärte Einiges, das ich allerdings nicht verstand. Die Übertitel gab es auf Spanisch und auf Englisch.



Ein wunderschön maestoso gepielter Auftakt erklang. Jaja, ein musikalischer Genuss made by Cambreling kündigte sich an. Mit leichtem und souveränem Mezzo stellte sich die Muse vor. Sie trat in Reisekleidung auf. Was für eine kultivierte Stimme! Wie ich später erfuhr, war es Anne Sofie von Otters Rollendebut als Muse.


Die Muse


Der Widersacher trat auf und stellte sich mit einem wohlklingenden leichten Bariton und ebenfalls hervorragendem Gesang vor. Er wirkte überhaupt nicht böse. In seiner Lederjacke erinnerte er mich entfernt an Bert Brecht. Die Ersteigerung des Briefes an Hoffmann wurde mit leicht verständlicher Symbolik gezeigt: Lindorf und den Boten trennte ein vierstufiges Treppchen. Mit jedem Gebot stieg Lindorf eine Stufe höher, so dass er bei quarante auf der obersten vierten Stufe angekommen war. Das war doch mal eine verständliche Symbolik, wie man sie sich wünscht. Zur Belohnung bekam er dann auch den Brief Stellas, damit er sich auch freuen konnte.


Das Nacktmodell zog einen Bademantel an, verschwand, und eine neue Nackte stellte sich auf das Podest. Eine bekleidete Frauengestalt stellte sich auf den Billardtisch im Aktzeichensaal und dirigierte den Chor, aber so verhalten, dass der bei zwei Dirigenten nicht aus dem Takt kam. Die befrackten Kellner führten dazu wilde Veitstänze auf. Einer von ihnen war gestylt wie Charlie Chaplin. Danach erschien Aktmodell Nummer drei.


Ein ziemlich missmutiger Hoffmann trat auf. Er trug wie die herein- und herausgehenden Aktmodelle einen Bademantel, zog sich aber im Gegensatz zu denen nicht aus. Im Chor befand sich auch ein Mann, der gestylt war wie Salvador Dalí und seine Augen weitestmöglich aufriss wie das auch Dalí gerne tat. Nach den wilden Veitstänzen fielen die Kellner ermattet zu Boden, und das vierte Aktmodell kam. Das war ja eine Frequenz wie im Table Dance. Währenddessen sang Hoffmann den Klein-Zach, allerdings bequem im Sitzen, obwohl er nicht an den kräftezehrenden Veitstänzen teilgenommen hatte. Dabei zeigte er keine Mimik oder Emotionen. Zur Strafe bekam er keinen Applaus, obwohl er mit wohlklingender weicher und lyrischer Tenorstimme sang. Da war nun das zweite Mal bei meinen nunmehr 72 »Hoffmännern«, dass es für einen Klein-Zach keinen Applaus gab. An der Stimme Eric Cutlers kann es nicht gelegen sein.



Nun hegte ich den Verdacht, dass der Führer durch den Aktzeichensaal der Spalanzani gewesen war, denn er trug während des Klein-Zach ein Damenbein quer über die Bühne. In seinem weißen Kittel und mit dem jambon über der Schulter wirkte er wie ein Metzger in einem Schlachthof. Jedenfalls kündigte sich der Olympia-Akt an. Das war auch nötig, denn der 1. Akt/Vorspiel zog sich ewig lang hin. Fast eine dreiviertel Stunde dauerte er schließlich. Das ist neuer Rekord. Nun musste auch noch die Muse herumturnen.



Dann saßen sich Lindorf und Hoffmann an einem großen Schachbrett gegenüber, dessen Figuren aus Bierflaschen und -gläsern bestanden. Ob sie jetzt um Bier oder Stella spielten, wurde nicht klar gezeigt. Nehmen wir mal an, der eine kriegt Bier, vielleicht ein belgisches Stella Artois, der andere zum Trost Stella oder umgekehrt.


Spalanzani und Olympia vor Badeofen


Wieder gab es einen Modellwechsel. Ja hergottnocheinmal, wie soll denn da ein Zeichner einen Akt fertig bekommen, wenn alle paar Minuten ein neues Modell kommt, das wieder ganz anders aussieht? Da möchte ich nicht zeichnen wollen, obwohl die Damen gut aussahen.


Dann schob Spalanzani die nun offensichtlich fertige und von einem Laken verhüllte Olympia auf einer Bahre herein. Dann war nach rekordlangen 43 Minuten der 1. Akt in Lutters Taverne bzw. dem Aktzeichensaal beendet. Mit einer Fernbedienung klickte Spalanzani die nicht mehr benötigten Gestalten von der Bühne weg. Nur die zwei geduldigen Zeichner durften sitzenbleiben.


Was mich wunderte: Die verschiedenenen Personen agierten praktisch nicht miteinander. Das ist auch schon den Verfassern des Wikipedia-Artikels über den Regisseur aufgefallen. Dort steht: „Seine Figuren auf der Bühne …. bleiben meist vereinzelt, warten, starren vor sich hin.“ In Madrid gingen sie häufig im Kreis oder im Quadrat.


Dann kam Nacktmodell Nummer eins wieder. Ein echtes déjà vu. In einem Zimmer im Hintergrund sah man durch die offene Tür, wie Spalanzani mit einer weiteren Nackten allerlei bizarre gymnastische Übungen veranstaltete. Dann merkte er wohl, dass er beobachtet wurde und knallte die Tür zu.


Spalanzani sang mit grotesk verzerrter Stimme. Er sollte wohl selbst als Maschinenwesen erscheinen. Dabei gab es den Spallanzani wirklich. Dann kam Coppelius mit einem Rollköfferchen herein. Während er in Katalogen blätterte, probierte Niklaus die Brillen für Hoffmann aus. Dann schob Spalanzani einen Gegenstand von der Form eines Badeofens über die Bühne und verschwand damit. Aktmodell Nummer zwei kam wieder. Dann schob Spalanzani die abgedeckte Olympia hinaus und darauf den Badeofen wieder herein.


Muse und Hoffmann I im Bademantel


Das vierte Nacktmodell kam wieder herein. Unter Spalanzanis Festgästen befanden sich eine Reihe von Gestalten aus einem Panoptikum eines antiken Jahrmarktes. Dazu leuchteten helle Scheinwerfer ins Publikum. Aha, damit sollte uns zahlenden Zuschauern klargemacht werden, dass wir auch zu Spalanzanis Gästen gehörten. Eine sehr blonde Olympia tapste aus ihrem vertikalen Transportbehälter und blickte verschreckt in die Gegend. Das nächste Aktmodell kam wieder. Sie durfte sich zur Abwechslung setzen und musste nicht an der Stange stehen. Olympia sah aus wie eine Schweizer Sennerin, die sich für die Touristen mit einem rot-weiß karierten Kleidchen mit weißen Puffärmeln schön gemacht hatte.


Mit silberheller Stimme und präziser Koloratur überzeugte sie sofort. Niklaus betrachtete sie durch eine Fresnel-Linse. Und dann gab es endlich den ersten Szenenapplaus. Der war kräftig, dauerte lange und war hoch verdient. Der Chor war nicht immer taktsicher. Deswegen hatte man wohl das diffizile Preislied auf Olympia (elle a des beaux yeux) vorsichtshalber weggelassen. Oder war ich kurz eingenickt? Kaum.



Dann zog sich Olympia wieder in ihren badeofenähnlichen Transportbehälter zurück. Dessen geschlossene Klappe sang dann der verliebte Hoffmann schmachtend an. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich Olympia nicht mehr darin befand. Währenddessen stand der nächste Aktmodellwechsel an.



Dann ließ der um sein Geld betrogene Coppelius seine Wut an den zwei unschuldigen Zeichnern aus. Das erinnerte mich an Wilhelm Buschs zahnwehgeplagten Lehrer Lämpel, der seine daran unschuldige Frau verprügelt. (Achtes Bild von oben) Die vorbeiwatschelnde Olympia ließ er aber ungeschoren, obwohl die laut Libretto massakriert werden soll. Die Kellner und andere begannen wieder mit ihren Veitstänzen. Der wütende Coppelius haute mehrere Umstehende um. Nun war Hoffmanns Widersacher endlich böse. Der Akt war aus, und es gab freundlichen Applaus.


Antonia und Mirakel


Im Antonia-Akt fand man sich wieder in der gleichen Lokalität. Antonia saß barfuß auf einem Podest, angetan mit einem lila Kleid. Ihren Wuschelkopf hatte sie gesenkt. Mit wunderschön lyrisch-dramatischem Gesang stellte sie sich vor. Ihr Auftrittslied durfte sie in voller Länge singen. Unvermittelt und dabei ziellos umhergehend sang Franz sein Couplet – auch in voller Länge. Korrekt hatte man la méthode mit technique ins Englische übersetzt. Irgendwelche Mimik ließ er bleiben, aber immerhin tat er zum Schluss einen verschämten Hüpfer. Im Hintergrund ging eine schwarz gekleidete Dame mit abgewandtem Gesicht quer über die Bühne. Höchst bedeutungsvoll. (Später stellte sich heraus, dass sie die Stella war.)


Dann kam eine souverän, aber etwas verhalten gesungene Geigenarie. Ein Genuss. Bevor die Oper ohne Belohnung dafür weiterging, tat ich einen lauten Klatscher und das Theater ging mit. Das war nun erst der zweite Szenenapplaus.


Zur Begrüßung stand das Liebespaar in diametralen Ecken der Bühne und kam sich auch nicht näher. Da haben wir wieder den Dalí. Bei seinen Bordellbesuchen soll er sich auch immer weit weg von den Kurtisanen gesetzt haben, um ihnen ja nicht zu nahe zu kommen. Aber wenigstens blickten sich Antonia und Hoffmann aus der Ferne an. Die ominöse schwarze Figur ging wieder über die Bühne und wandte ihren Blick weg vom Publikum. Das ist aber bitteschön René Magritte und nicht Dalí. Magritte malte gerne Gestalten, die vom Zuschauer wegblickten.



Wunderschön gesungene Duette Hoffmann – Antonia folgten. Auch Krespel sang ganz ausgezeichnet. Drei hervorragende Stimmen trafen sich zum Terzett Mirakel – Hoffmann – Krespel. Die Ferndiagnose Antonias geschah ohne szenische Erklärung. Dazu kehrte die Domestike Franz den Boden. Mirakel trug nun, typisch für einen Quacksalber, einen langen Ledermantel und wirkte überhaupt nicht dämonisch.


Ohne irgendwelche Gestik verführte Mirakel die Antonia zur vermeintlichen Gesangskarriere. Dazu wandelte Antonia wie in Trance über die Bühne. Das Wandern ist des Marthalers Lust und offensichtlich sein bevorzugtes szenisches Gestaltungsmittel. Die Mutter der Antonia war in ein uniformähnliches Kostüm gesteckt worden, das ihr das Aussehen einer Stewardess gab. Sie zeigte viel Bein und las in einer Modezeitung der Vorkriegszeit. Zum Terzett standen Mutter, Antonia und Mirakel so weit auseinander wie es nur ging. Danach hielt die Mutter wieder die Modezeitung aus den dreißiger Jahren hoch. Dann sang sich Antonia erstaunlich lebhaft zu Tode. Sie saß noch aufrecht, als Krespel schon ihren Tod konstatiert hatte. Auch Hoffmann fand es nicht angebracht, seiner Geliebten nahe zu sein. Applaus und zweite Pause.


Giulietta (links)


Freundlicher Applaus begrüßte Maestro Cambreling nach der Pause. Spalanzani und Hoffmann standen vor dem Vorhang. Hoffmann versuchte mehrfach vergeblich, den Vorhang mit einer Fernbedienung zu öffnen. Gelassen nahm dann Spalanzani die seine, und prompt ging der Vorhang auf. So wurde das Hierarchiegefälle illustriert.


Sieben große grüne Billardtische (es mögen auch Spieltische gewesen sein) füllten die Bühne. Eine laszive Giulietta räkelte sich auf einem davon, weit weg von ihr stand Niklaus. Doch gegen Ende der Barkarole hatten sie sich angenähert. Korrekt ließ Maestro Cambreling das Piccolo weg. Nur die begleitenden Instrumente Klarinette und Oboe waren meinem Gefühl nach etwas zu laut. Das Publikum in Giuliettas Salon (ungefähr 50 Chorsängerinnen und Sänger) saß brav auf den hinteren Stuhlreihen. Unter einem Billardtisch wälzte sich ein Paar.


Eine Reporterin blitzte andauernd mit ihrer Kamera herum. Das gäbe mal ein Aufsehen, wenn jemand in einem Bordell herumfotografierte. Leider war der Chor mehr als einmal böse außer Takt. Jemand versuchte mehrfach, dem Hoffmann den sattsam bekannten weißen Fetisch-Bademantel anzuziehen, doch der wollte nicht. Eine erotische Atmosfäre suchte man vergebens. Einmal legte sich Giulietta sogar zu einem kleinen Nickerchen hin.


Wunderschön sang Dapertutto die Spiegelarie, aber wiederum spendete das Publikum keinen Applaus. Es gab auch keinen, als die Giulietta feurig-erotisch das Hohelied auf die Liebe sang. Das schien aber Niklaus nicht zu gefallen, denn er ging weg. Dazu hatte der Chor plötzlich weißumrandete 3D-Brillen auf. Das hatte ich doch schon mal gesehen. Ich glaube, das war Nordhausen. 2008.


Ein sinnliches Duett Hoffmann – Giulietta folgte. Dann gab es ein Duell Hoffmann – Schlemihl. Es begann mit einem Schubser, doch dann wurde Hoffmann brutal. Es gab richtige Äkschn, und eine (Theater-)Flasche zerplatzte auf einem Kopf. Hoffmann schleuderte den Schlemihl auf einen der Billardtische, dessen grüne Fläche unter dem armen Verlierer zerbrach. Dann versuchte der siegreiche Hoffmann die Giulietta auf einem der Spieltische zu vernaschen. (Laut Libretto bekommt er sie eigentlich nicht.) Einen Verlust des Spiegelbildes konnte ich nicht erkennen. Hoffmann wurde vom Chor eingekreist, während Giulietta mit Dapertutto abhaute.



Sauber kam der ernüchternde Bläserchor, als der nahtlose Übergang zum Finale folgte. Die Mutter-Stewardess tauchte wieder auf, ebenso Olympia und Giulietta. Und auch die fünf Aktmodelle krabbelten aus einem der Billardtische. (Was für ein technischer Aufwand. Die hätten doch auch einfach reingehen können.) Hoffmann zog wieder mal den weißen Bademantel an.



Nun stellte sich heraus, dass die stumm wandelnde Frau mit dem abgewandten Gesicht Stella war, eine Sprechrolle. Sie begann (auf Spanisch) mit energischer Stimme aus einer Schmähschrift des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa (1888 – 1935) gegen die Politiker seiner Zeit zu zitieren: Ich bekomme keine Luft mehr, lauter Nullen usw. Das hatte Pessoa sicher nicht ohne Grund im Jahr 1919 geschrieben, als die Politker der europäischen Großmächte fünf Jahre zuvor nichts getan hatten, um ihre kriegslüsternen Kollegen und Generäle von der gegenseitigen Massenshlächterei des Ersten Weltkrieges abzuhalten. Zufällig besuchte ich den Madrider »Hoffmann« am Tag der Wahl zum Europaprlament 2014. So war also der Bezug durchaus gegeben, als zum Beispiel in Frankreich die Rechtsradikalen gerade stärkste Partei wurden. Was allerdings eine solche Politikerbeschimpfung in der psychologischen Oper Hoffmanns Erzählungen zu suchen hat, wird ein ewig Rätsel bleiben mir und Anderen.



Dann erst ging die Oper weiter, und der getäuschte Hoffmann durfte endlich Emotionen zeigen. Und der Chor war wieder mal böse aus dem Takt. Ein wunderschöner Abgesang der Muse folgte: Te amo, Hoffmann … stand in den Übertiteln (nicht: te quiero).



Dazu erwachte Hoffmann wieder, immer noch im weißen Bademantel, als sich die Muse neben ihn legte. Und wieder legte eine der anderen Gestalten auf der Bühne einen Veitstanz hin. Eigentlich ein schönes versöhnliches Finale. Doch nein, das Paar trennte sich wieder, als die Muse verschwand. Lauter Leichen lagen auf der Bühne.



Vorhang und Applaus. Großer Jubel für Olympia und Antonia = Giulietta, für die Muse und für Hoffmann, auch für das ausgezeichnete Orchester samt seinem berühmten Dirigenten. Gut fünf Minuten dauerte der Applaus, den man mit etwas besserer Applausregie noch hätte ausdehnen können.

Alle Rechte an den obigen Szenenfotos liegen beim Fotografen Javier de Real und beim Teatro Real Madrid. Wir danken für die freundliche Zusammenarbeit.


Anmerkung zur Übertragung dieser Inszenierung: Von Opernfreund Herbert erfuhr ich, dass die Fernsehsender eine solche Inszenierung sozusagen blind kaufen. Sie erfahren, dass ein (meist millionenstädtisches) Theater eine bestimmte Oper inszeniert. Es wird ein Vertrag über eine Ausstrahlung bald nach der Premiere geschlossen, ohne dass der Sender die Inszenierung kennt. Man will nämlich aktuell sein und mit den großen Namen der Metropolenbühnen glänzen. Quote, Quote über Alles. Ich habe zahlreiche Emails an Arte und andere Fernsehsender geschrieben, wenn ich einen herausragenden »Hoffmann« an einer kleineren Bühne gesehen hatte und schlug vor, den zu übertragen. Ich bekam nie eine Antwort. Und so werden die großartigen Inszenierungen z.B. von Bern (Johannes Erath), Osnabrück (Lorenzo Fioroni), Tartu (Dmitri Bertman) und Mannheim (Christof Nel) einem größeren Publikum vorenthalten. Irrelevante Inszenierungen wie die von Madrid and München (Richard Jones 2911) dagegen werden eilfertig ausgestrahlt. Diese Vorgehensweise sollte man bei den Fernsehgewaltigen mal gründlich überdenken. Lieber etwas abwarten, auch mal die sogenannte Provinz berücksichtigen, und mal lieber auf große Namen verzichten zu Gunsten einer kreativen Inszenierung. Auch in der Provinz wird hervorragend gesungen, siehe z.B. die Oper Saarbrücken, wenngleich der dortige Hoffmann als Farce interpretiert war.

Mein Freund Charlie aus Florida, einer der wenigen »Hoffmann«-Experten, der Alles über diese Oper weiß, was es zu wissen gibt, sah die Internetübertragung dieser Inszenierung und sandte mir folgende ratlose Email, die ich mit seiner Zustimmung rechts wiedergebe:


Dear Gerhart,


I saw the webcast of the Madrid "Hoffmann" over the weekend and was able to get a digital copy which I just finished viewing.. I have to say that I hated it, although I hated it a bit less in the second viewing than in the first. Were it not for the superb singing I don't know how I could have made it through.

I don't know if it's just me, but Marthaler's production makes absolutely no sense to me. If it were only ugly (which it is) I could deal with that, but it's also baffling. I heard the interview with Marthaler during the intermissions, but was given no clue as to his concept.

You have seen so many productions, I hope you can enlighten me, if, indeed, there is some merit to Marthaler's vision. I strove to find some, but failed.

- Among the oddities that I couldn't understand: why do the two waiters go into epileptic fits during the drinking chorus?

- For what reason are all those easels scattered throughout the set? Why does Crespel spend most of the Antonia act with his back to the audience and why does Franz pace the periphery of the stage throughout the act?

- What actually is Olympia? A re-animated corpse? If so, I've seen this done before and better. The number of nude women was not novel at all - one frequently, as you must know, sees them floating about the stage when a "Hoffmann" director can't think of anything else to do. The symbols, the cues, the nuances, they all should mean something, but they meant nothing to me.

- The most baffling thing - why on earth does Stella recite Fernando Pessoa's poem "Ultimatum" in the epilogue (I think translated into Spanish from the original Portuguese)? How does this poem share any connection with "Hoffmann"? The poem is about politics - about capitalism and socialism - it is full of anger and beauty, but what has it to do with the opera? And why should Stella deliver it - addressing Hoffmann the whole while?

- My own conclusion is that here we have, yet again, a director who does not understand and who cannot make heads or tails of the opera and so has fit his own bizarre flights of fancy onto it, trying to seemingly make a statement but, ultimately, wasting the audience's cognitive capacity to follow his lead. If I'm wrong, and I may be, please let me know.

That being said, the performance was musically stunning, I thought. Cutler makes a fine Hoffmann - I hope he keeps this role in his repertoire. Von Otter's Muse wasn't quite as good as it had been in the, otherwise dull, Tate recording from 1992, but she was still delightful (even in that stupid stocking cap), and I thought Measha Brueggergosman was fantastic and fascinating as Antonia and Giulietta. It's a shame that the high tessitura of Olympia's music would be too difficult for her (as would be the final version of Giulietta's aria - in this production she sings Offenbach's first version, which is a bit lower) otherwise she could have sung all three.

If only the production had been comprehensible it could have been wonderful. But maybe I'm missing something. Let me know, as I said, I can't wait to hear your thoughts on it.


Charlie




Da ich leider nicht die Premiere besucht hatte, passte ich am Bühneneingang der Madrider Oper einige der Mitwirkenden ab und traf so auf Olympia, die Muse, Antonia = Giulietta und Hoffmann II.




Ana Durlovski (Olympia)



Anne Sofie von Otter (Muse=



Measha Brüggergosman (Antonia und Giulietta) und Jean-Noël Briend















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